Der zarte Dissident

von Redaktion

Lyriker Reiner Kunze feiert 90. Geburtstag

VON CHRISTOPH ARENS

„Der stille Deutsche“ nannte ihn der Historiker Michael Wolffsohn einmal. Anders als etwa der Liedermacher und Autor Wolf Biermann, der seine Wut auf die SED-Bonzen herausschrie, blieb der Lyriker Reiner Kunze ein zurückhaltender, beinahe zarter Dissident – der den DDR-Apparat dennoch provozieren konnte. Heute feiert er seinen 90. Geburtstag.

Kunze (Foto: Armin Weigel/ dpa) schrieb 1977, nach seiner Ausreise aus der DDR, den Satz: „Heimat haben und welt,/ und nie mehr der lüge/ den ring küssen müssen.“ Denn die Wahrheit war sein Lebensthema. In eine Arbeiterfamilie in Oelsnitz im Erzgebirge geboren, studierte Kunze Philosophie und Journalistik in Leipzig. Rasch geriet er durch erste Gedichte in den Fokus der Stasi, die subversive Gedanken witterte. Kunze beendete seine wissenschaftliche Karriere, hielt sich als Hilfsschlosser über Wasser, arbeitete schließlich als freier Schriftsteller. 1968 trat er wegen des Einmarsches der Truppen des Warschauer Paktes in die Tschechoslowakei aus der SED aus.

Während die Veröffentlichung seiner Werke in der DDR zeitweise nahezu unmöglich wurde, etablierte er sich in der Bundesrepublik mit seinem Gedichtband „sensible wege“ (1969), dem Kinderbuch „Der Löwe Leopold“ (1970) und dem Lyrikband „zimmerlautstärke“ (1972). Das Buch „Brief mit blauem Siegel“ (1973) wurde zum erfolgreichsten Lyrik-Titel der DDR.

Den endgültigen Bruch mit dem SED-Regime leitete Kunzes 1976 in Westdeutschland erschienener Prosaband „Die wunderbaren Jahre“ ein. Das Buch, das jetzt neu aufgelegt wurde, war eine poetische Auseinandersetzung mit dem schikanösen Alltag der DDR. Kunze wurde aus dem DDR-Schriftstellerverband ausgeschlossen; ein Kulturfunktionär drohte ihm den Tod an. Es blieb nur die Ausreise.

Der Schriftsteller schrieb danach weiter: über den Alltag, die Natur, die Liebe, Ängste, Träume, Hoffnungen und Reisen. Er übersetzte osteuropäische Lyrik, verfasste Gedichte für Kinder, publizierte Fotografien. Im Jahr 1990 stieß er eine Debatte über die Veröffentlichung von Stasi-Unterlagen an. Als einer der ersten Betroffenen hatte er Einblick in seine Akten erhalten und einen Teil in der Dokumentation „Deckname Lyrik“ veröffentlicht. Damit enttarnte er auch den Vorsitzenden der DDR-SPD, Manfred „Ibrahim“ Böhme, einen vermeintlichen Familienfreund, als langjährigen Mitarbeiter der Stasi.

Kunze kritisierte zudem seine Kollegen Günter Grass und Heinrich Böll für deren Arrangement mit den Regierenden Osteuropas. Und in seinen Gedichtbänden „Auf eigene Hoffnung“ (1981) und „Eines jeden einzigen Lebens“ (1986) klangen auch kritische Töne über den „freiheitlichen“ Westen an.

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