Ein Mädchen wird am 17. August 1953 in Nitzkydorf geboren, Banater Schwäbin. Schon da Außenseiterin in Rumänien, Außenseiterin im kommunistischen System – die Mutter war jahrelang im sowjetischen Arbeitslager, der Vater ehemaliger Waffen-SS-Soldat –, Außenseiterin in der ländlich-traditionellen Heimat, in der Stadt Außenseiterin im Gymnasium und an der Universität. Dieses Draußen-Stehen und Zusehen, wobei man zugleich unrettbar involviert ist, potenzieren sich schließlich zu Todesgefahren: Diese Herta Müller, als Übersetzerin tätig, weigert sich, andere für Nicolae Ceauşescus Geheimdienst auszuhorchen. Außenseiterin im positiven Sinne ist sie geworden, als ihr 1987 die Ausreise in die Bundesrepublik Deutschland gelingt. Denn sie entwickelt sich zu einer Dichterin von unter die Haut gehender Intensität.
Im Jahr 2009 wird die solitäre Stellung der Autorin im deutschsprachigen Literaturraum mit dem Nobelpreis kanonisiert. Zu ihrem 70. Geburtstag, den sie heute feiert, legt der Münchner Hanser- Verlag nun den schmalen Band „Eine Fliege kommt durch einen halben Wald“ vor. Er enthält neben dem im Titel genannten Hörspieltext (2011) diverse Reden aus den Zehner- und Zwanzigerjahren. Die Verzahnung von Poesie, die den Terror ästhetisch fasst, mit den sowohl hoch analytischen als auch hoch emotionalen „Gebrauchstexten“ bildet griffig und plastisch Müllers Arbeitsweise ab. Und ihre Lebensaufgaben: die Qual der Opfer von bösartigen Herrschaftsstrukturen niemals dem Vergessen zu überlassen – das Schreiben ist ihr Instrument dafür.
So sagt die Schriftstellerin 2022 bei der Verleihung des Preises für Toleranz und Menschenrechte des Jüdischen Museums Berlin: „Einen Ausweg gab es nicht. Sondern immer mehr Dinge, die mich schluckten. Es schneite zerrissene Taschentücher, (…), die Frau im Park aß einen Pfirsich aus ihrer eigenen Gesichtshaut. So fing ich an zu schreiben. Die Wörter halfen mir, erlaubten, ja benötigten sogar das Surreale, das diffus daherkam, aber genau dadurch das politische Gefüge berührte. Die Verrücktheiten änderten außen nichts, aber sie waren ein innerer Ausweg.“
Mit „Der Fuchs war damals schon der Jäger“ erscheint 1992 Müllers erster Roman in relativer Freiheit (sie war weiterhin vom rumänischen Geheimdienst Securitate bedroht). Schon damals transformiert sie das Luft abschnürende Gespinst aus Angst-Atmosphäre durch den Staatsterror und materiellem Elend in fantastische Bilder und in eine beklemmende Allgemeingültigkeit. Die trifft heute noch genauso ins Mark, und zwar weltweit. Die aktuellen Bezüge stellt Herta Müller als politisch wacher Geist auch in ihren Sachtexten her, von der Nazizeit über den Kommunismus einst und jetzt (China) bis zu Putins Diktatur, Krim-Annexion und Krieg heute. Die Poetin ist die beste Prophetin in dieser Hinsicht. Sie entlässt niemanden aus der Verantwortung, ob im Roman, ob in den Reden. Ihre Sprache ist das Operationsbesteck. Es schneidet scharf, um zu heilen.
Dass die Dichterin eine sehr sinnliche Beziehung zur deutschen Sprache und ihren Worten pflegt, wird beim Lesen klar. Müller kultiviert diese Lust außerdem mit Schere und Kleber. Wörter werden Papier und Farbe, Schrifttype, -größe, -dicke; sie vereinzeln und fügen sich dann doch zu Satz und Sinn. Grafikdesign, Literatur und bildende Kunst tanzen in den Büchern miteinander – wieder ein „innerer Ausweg“.
Herta Müller:
„Eine Fliege kommt durch einen halben Wald“.
Hanser-Verlag, München, 125 Seiten; 24 Euro.