„Wo würden Sie Land kaufen? Um sich zu retten… Im Fall der Apokalypse.“ Die Antwort: „In Tasmanien. Es ist südlich genug, um nicht unter extremen Temperaturen zu leiden. Es hat reichlich Süßwasserreserven, wird demokratisch regiert, und es leben dort keine Fressfeinde des Menschen.“ Tasmanien also. So heißt der neue Roman des italienischen Physikers und Schriftstellers Paolo Giordano (41, „Die Einsamkeit der Primzahlen“).
Das zitierte Gespräch bestreiten Paolo, die zentrale Figur des Buches, und Novelli, ein anerkannter Wissenschaftler und Wolken-Spezialist. Die Geschichte spielt in den vergangenen zwei bis drei Jahren und verquickt die subjektiven Befindlichkeiten des Enddreißigers Paolo mit dem objektiven Kosmos des gesellschaftlichen und politischen Zustands unserer Welt.
Tasmanien, das in diesem Roman nicht weiter vorkommt, als Synonym für eine mögliche Utopie. Denn der eigentliche Schauplatz sind Rom und Paris und im letzten, kurzen dritten Teil Japan. Paolo ist ein Mann mit vielen Kontakten, Freundschaften, ein den Menschen zugewandter Zeitgenosse. Auch er wie der Autor Giordano von Haus aus Physiker, der für den „Corriere della Sera“ schreibt und an einem Buch über den Abwurf der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki arbeitet.
Aber es geht nicht vorwärts. Und auch seine kinderlos bleibende Ehe mit Lorenza unterliegt aus seiner Sicht nur noch dem Einerlei der Gewohnheit. Paolo will nichts als wie weg. Er reist in der Welt herum, berichtet von Kongressen und anderen Ereignissen, von Klimawandel, Umweltsünden, Flüchtlingen und der neuen Macht der Frauen. Er führt ein Leben in der Schwebe, wie er es nennt. Und bei allem steckt er dennoch mitten im Leben, von dem er glaubt, dass es vor allem darauf ankäme, nichts unversucht zu lassen.
So listet der Roman ein breit gefächertes Panorama der Möglichkeiten auf, die Paolo aber stets unerfüllt zurücklassen. Er kann sich nicht wirklich engagieren, er will sich nicht festlegen, eine tiefe Sehnsucht ist in ihm – irgendwie nach Freiheit, nach Familie, nach Zukunft. Ein Spannungsfeld, dem genauso seine Freunde ausgesetzt sind: Giulio, sein Studienkollege von einst, geschieden und mit großen Problemen wegen seines kleinen Sohnes; der Wolkenforscher Novelli, der die zunehmende Gleichstellung der Frauen bei der Besetzung akademischer Posten als Diskriminierung der angeblich überlegenen männlichen Wissenschaftler geißelt; die junge Kriegsreporterin; der katholische Priester…
Für alle ist Paolo da, um jeden kümmert er sich. Doch irgendetwas fehlt. Eigene Kinder? Vielleicht. Am Ende nimmt er mit Giulio an den Gedenkfeiern in Hiroshima und Nagasaki teil. Und seine Fantasie katapultiert ihn für einen Moment in das Reich der Metaphysik: Könnten nicht die Strahlen, die von jenen Toten der Atomkatastrophe noch immer ausgehen, das Gedächtnis jener Opfer bewahren, wären sie nicht so etwas, was wir Seele nennen? Doch davon schweigt er lieber. Im Flieger nach Europa sitzend, weiß er jetzt aber, warum und worüber er schreibt. Ein fabelhaftes Buch, so gegenwärtig, mit den Widersprüchen des Lebens jeder einzelnen Figur allumfassend die Wirklichkeit einfangend. Es belehrt nicht, wenn man auch bei der Lektüre viel lernt. Es urteilt oder verurteilt nicht, dennoch macht man sich als Leser sein eigenes Bild. In jedem Fall hat es immer auch mit einem selbst zu tun. Ein gelungener Roman.
Paolo Giordano:
„Tasmanien“. Aus dem Italienischen von Barbara Kleiner. Suhrkamp, Berlin, 330 Seiten; 25 Euro.