Nein, die Löcher in den weißen Kniestrümpfen, die die Buben zur Lederhose trugen, konnten nicht einfach so gestopft werden. Das Mäderl musste das Strickmuster rekonstruieren und das Ergebnis so geschickt an der Ferse einfügen, dass niemand eine Fehlstelle vermuten würde. „Dafür muss ich jetzt ihr Leben nachstricken. Aus einem inneren Zwang heraus. Bis zum Begräbnis bin ich fertig, und dann bin ich es los, die Erinnerung und alles. Ein schneller Text. Und weg damit.“ So raunzt in „Eigentum“ der Erzähler, hinter dem sich der österreichische Autor Wolf Haas, Jahrgang 1960, zu erkennen gibt.
In dem Kurzroman schildert er die Sterbebegleitung bei seiner Mutter Marianne, geboren 1923. Das ist also eine Mutter-Sohn-Geschichte, aber vor allem die Biografie einer Frau aus einer Generation, die in einer brutalen geschichtlichen Lage ums Überleben kämpfte. In der traf es wie immer den weiblichen Teil der Bevölkerung am härtesten. Insofern ist „Eigentum“ durchaus ein Sachbuch zur kapitalistischen, patriarchalen Ökonomie. Eines mit sehr realen Beispielen: von der Zehnjährigen, die von den Eltern von zehn Kindern notgedrungen als Sklavin auf einen Bauernhof gegeben wurde; über die erwachsene Serviererin, die acht Jahre lang ihren Lohn aus der Schweiz an die Familie schickte, damit die ein Haus bauen konnte; bis zur Greisin, die die Raiffeisenkasse aus der Wohnung drängte, um die Erweiterung eines Hotels im ohnehin „unter Hotels begrabenen Dorf“ zu ermöglichen.
All diese Ebenen arbeitet Wolf Haas, besonders bekannt durch seine „Brenner“-Krimis, so kurz wie klug wie grimmig wie humorvoll aus. Er beschönigt nichts an seiner immer schwieriger gewordenen Mutter, die stets mit „Mar. Haas“ unterschrieb – sich nicht einmal den vollen Namen gönnte. „Sparen, sparen, sparen“, „arbeiten, arbeiten, arbeiten“ hatten nicht geholfen; die Anzahlung für eine Eigentumswohnung wurde unausweichlich von der Inflation überholt. Die zähe Kämpferin musste aufgeben. Haas lässt sie mehr und mehr selbst zu Wort kommen. Dialektgefärbt, mal in Rumpfsätzen, mal in Wiederholungen, in mäandernder Erzählweise. Auf diese Weise tritt ihre beeindruckende Lebensleistung plastisch hervor. Man versteht, warum sich der Sohn trotz seines Grolls all die Episoden und Tiraden gemerkt hat.
Der Künstler in ihm hat den Schatz wohlweislich gehütet. Und wenn Haas die angeforderte Poetikvorlesung in den 157 Seiten ab und an spöttisch thematisiert, die Rhetorik seiner Mutter analysiert, eine Hommage ans Seufzen formuliert und die Wiederholung feiert, dann ist klar: „Eigentum“ ist die Poetologie, die er „Kann man vom Leben schreiben?“ nennen wollte. Und die ist eben so zwiespältig und ironisch wie die „Zweiquadratmeterwohnung“ der Mutter auf dem Dorffriedhof.
Wolf Haas:
„Eigentum“.
Hanser Verlag, München, 157 Seiten; 22 Euro.
Bekannt wurde Haas durch seine „Brenner“-Krimis
Haas schreibt auch eine Hommage an das Seufzen