Der Notausgang in die Welt des Lesens

von Redaktion

Angelika Klüssendorf ist mit „Risse“ für den Deutschen Buchpreis nominiert – jetzt stellte sie ihr Werk in München vor

VON MICHAEL SCHLEICHER

Wir können tatsächlich nur erahnen, was das bedeutet, wirklich bedeutet: Fünf bis sechs Stunden arbeite sie an einer Seite, verrät Angelika Klüssendorf an diesem Abend ihrem Publikum in der voll besetzten Bibliothek des Literaturhauses. Sie verdichte, verknappe, kondensiere, berichtet die Schriftstellerin – bis sie zur Essenz dessen vorgedrungen ist, was sie erzählen will. Bis der Text schließlich auch im richtigen Rhythmus pulsiert.

Dass der in ihrem neuen Werk „Risse“ stimmt, ist nicht nur bei der Lektüre spürbar. Bei der Buchpremiere am Freitag in München tippt Klüssendorf kaum merklich mit ihrem linken Fuß, der in einem weiß-roten Sneaker von Asics steckt, den Takt der Sätze mit, die sie gerade vorliest.

Das ist eine Beobachtung am Rande, gewiss. Und dennoch erzählt sie einiges über das Schaffen dieser Autorin, die 1958 in Ahrensburg geboren wurde und von 1961 bis zu ihrer Übersiedlung 1985 in Leipzig lebte. Klüssendorf ist eine gewissenhafte Erforscherin des (eigenen) Lebens, die ihre Ergebnisse und Entdeckungen in Literatur überführt. Ihre Texte fesseln durch ihre Klarheit und berühren, ohne je gefühlig oder gar voyeuristisch zu sein. Damit weisen sie stilistisch und inhaltlich weit über das Gros dessen hinaus, was an Autofiktionalem publiziert wird.

„Risse“, mit dem die Schriftstellerin wie berichtet Chancen auf den Deutschen Buchpreis hat, ist eine Wiederbegegnung in zehn Geschichten mit dem Mädchen aus der Trilogie „Das Mädchen“ (2011), „April“ (2014) und „Jahre später“ (2018). Eine „literarische Selbstbefragung“, nennt Klüssendorf das Buch, „um mich zu vergewissern: Was habe ich ausgelassen?“ Das Kind, die Jugendliche versucht hier vieles, um ihre Eltern, die grausam, lieblos, desinteressiert, abwertend und böse sind, auszuhalten, um deren Handeln vielleicht sogar zu begreifen. Ein schier unmögliches Unterfangen, bei der das Abtauchen in die Welt der Bücher die einzige Exit-Strategie ist. „Heimat“ wird Klüssendorf das Lesen und Schreiben im Gespräch mit Tanja Graf mehrfach nennen. Der Leiterin des Literaturhauses glückt es, durch ihre so unaufgeregte wie konzentrierte Art des Fragens, Werk und Autorin den Menschen im Saal sehr nahezubringen. Ein Gewinn. „Es gibt keine Wunden, die nicht verheilt wären“, schreibt Klüssendorf. Doch gebe es „Leerstellen, die ich bis heute nicht zu betreten wagte“. Wie gut, dass sie jetzt den Mut dazu gefunden hat.

Angelika Klüssendorf:

„Risse“. Piper, München, 176 Seiten; 22 Euro.

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