Eskalation mit Mahler

von Redaktion

Die Jazzrausch Bigband spielt die ausverkaufte Isarphilharmonie schwindelig

VON KATJA KRAFT

Keine Ahnung, wo die Frau ihre Schuhe gelassen hat. Ist auch völlig egal. Denn sie tanzt. Tanzt wie in Trance. Ende 50, Anfang 60, Sommerkleid, rot lackierte Nägel an den nackten Füßen. Und in diesem Moment sichtlich sehr, sehr zufrieden. Mahlers Fünfte in der Isarphilharmonie. Der Name Jazzrausch Bigband im Programmheft macht klar, dass dieser Freitagabend nichts mit einem klassischen Konzert zu tun hat. Wer die Truppe um Initiator und Lebenszirkusdirektor Roman Sladek kennt, der weiß: Räuspern und Hüsteln während der Vorstellung fällt heute nicht weiter auf.

„Achtung, jetzt fallen dir gleich die Ohren ab“, gibt eine Zuschauerin ihrer Begleitung kurz vor Beginn einen sehr treffenden Warnhinweis. „Wer von euch hat gedacht, dies sei ein klassisches Konzert?“, fragt Sladek amüsiert. Vielleicht die zwei älteren Herrschaften im Mittelblock, die konsequent und so ziemlich als Einzige während des gesamten Abends sitzen bleiben – dies bis zum Schluss. Mit interessierten Mienen ergründend, was da vor sich geht. Was vor sich geht? Klassik und Techno und Jazz, Lichtershow und Bühnennebel und Fanfaren – vermischt zu einem großen Rausch. In der Sterneküche würde man das Fusion nennen. Die schmeckt an diesem Abend allen.

Nun haben sie sich also Gustav Mahlers fünfte Sinfonie in cis-Moll vorgenommen. Am 27. Oktober erscheint die von Hauskomponist Leonhard Kuhn erarbeitete Jazzrausch-Interpretation. Bei der Münchner Uraufführung im bebenden Gasteig H8 jagen sie uns Mahler mit Pauken und Trompeten von der Ohrmuschel übers Trommelfell direkt hinunter in die Füße. Zappelalarm vom ersten Satz an. Der wurde von Mahler selbst einst überschrieben mit „Trauermarsch“. „Ich hoffe, das hat sich übertragen“, meint Sladek trocken. Und wenn sich zu diesem alles andere als düsteren Marsch noch nur die eingeschworenen Fans mit Jazzrausch-Bigband-Käppis und Glitzer-Look im Gesicht getraut hatten, zwischen die Sitzreihen zu springen und zu federn, geht’s in Satz zwei richtig los. Zu Mahlers Vorgabe passend mit „stürmisch-bewegt“. Klare Sache: „Das ist eine Tanzaufforderung von Mahler gewesen, postum überbracht durch mich.“

Sladek erfüllt wieder einmal ganz seinen eigenen Anspruch, als Musiker nicht bloß zu musizieren und zu erwarten, dass ein jeder ehrfurchtsvoll lauschend dasitzt. Er ist Entertainer durch und durch. „Ich muss schon selbst dafür sorgen, dass die Leute gerne kommen und auch gerne wiederkommen“, hat er es einmal im Gespräch mit unserer Zeitung formuliert. Das Konzept geht auch an diesem Abend auf. Nach dem zweiten Satz ist der gesamte Saal bereit für Eskalation.

Wer noch immer daran zweifelt, dass das Kunstkraftwerk ein Erfolg wird, das gerade in Aubing entsteht, und dessen musikalischer Direktor Roman Sladek ist, der wird an diesem Abend optimistisch gestimmt. Die Idee in Aubing ist ja wie berichtet, Menschen unterschiedlicher Altersgruppen und Lebenswelten zusammenzubringen. Jazzhörer auch mal für Pop zu gewinnen, Rave-Verrückte mit Klassik zu überraschen. „Mahler’s Breakdown“ beweist aufs Schönste, dass das geht. Ganz egal, ob man das Original kennt; ganz egal, ob man überhaupt schon einmal außerhalb von Tiefkühlpizza-Werbung irgendeine klassische Melodie gehört hat – wenn Moritz Stahl am Tenorsaxofon zaubert oder Florian Leuschner die Bassklarinette beschwört, springen die Funken über. Das brizzelt.

Und danach Teil zwei des Programms: „United Bangers“. Eine Best-of-Auswahl der inzwischen 30 Kompositionen Leonard Kuhns: zusammengenommen eine Techno-Symphonie. Es schwingt ihren Kopf hin und her die Frau mit den nackten Füßen, es hüpft wie verrückt der junge blonde Lulatsch mit der Sonnenbrille, es wackeln die überraschend wendigen Hüften der Seniorin in weißen Turnschuhen. Erst in der Musik, dann im Leben Grenzen überspringen – wie erfrischend, wie bereichernd, wie inspirierend das ist.

Jazzrausch Bigband:

„Mahler’s Breakdown“ (Act).

Das neue Album der Band erscheint am 27. Oktober

„United Bangers“ ist eine furiose Techno-Symphonie

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