Hunger nach Leben

von Redaktion

NEUERSCHEINUNG Stephen King widmet seiner liebsten Figur „Holly“ einen eigenen Roman

VON MICHAEL SCHLEICHER

Nichts ist verkehrt daran, einen Text über diesen Roman, der so sehr ums Essen kreist, um die richtige Ernährung für eine langes, gesundes Leben, mit einem Ei zu beginnen. Die meisten Fälle, dozierte ihr Mentor Bill Hodges einst im Gespräch mit Holly Gibney, seien zerbrechlich wie eben ein Ei. Daher, schlussfolgerte der Ex-Polizist, müsse man einen Fall auch wie ein solches behandeln: „Man schlägt ihn auf, man rührt ihn um, man kippt ihn mit etwas Butter in die Pfanne. Und dann macht man sich ein hübsches kleines Omelett.“ Klingt herrlich einfach – in der Theorie. Was aber, wenn gar nicht klar ist, wer das Ei, wer der Koch und wer das Omelett ist? Außerdem hat Holly für Theorie zunächst einmal gar keine Zeit.

Sie ist zurück – und wie! Stephen King hat eine seiner liebsten Figuren („Ich kann mich einfach nicht von ihr verabschieden“) ins Zentrum seines neuen Werks gestellt, das wie seine Protagonistin heißt und heute auf Deutsch erscheint. In „Mr. Mercedes“ hatte Holly 2014 den ersten Auftritt, weitere folgten. Eigentlich, erinnert sich der US-Schriftsteller, sollte sie damals „nur eine Nebenrolle spielen, aber irgendwie hat sie das Buch übernommen und mein Herz gestohlen“. Gut so, denn in „Holly“ begleiten wir die Privatermittlerin (den Ausdruck „Detektivin“ kann sie nicht ausstehen) bei einem spannenden, aber auch recht grausigen Fall.

Wer dem Charakter bislang nicht begegnet ist, sei unbesorgt – das schmälert das Lektürevergnügen nicht. Die Tatsache, dass King stellenweise etwas zu häufig Hollys Vergangenheit erwähnt, dass er die Prüfungen thematisiert, die sie bis hierher zu meistern hatte, erfreut die Fans (wie auch andere Verweise auf sein umfangreiches Schaffen – etwa auf sein Debüt „Carrie“ von 1974) und zeigt, wie sehr den 75-Jährigen Hollys Schicksal umtreibt: Er arbeitet in diesem Buch auch das Porträt einer Frau heraus, die schmerzhaft lernen musste, zu sich selbst zu stehen. Erst jetzt, mit über 50, zieht sie ihr Ding durch, obgleich es mitunter schwerfällt. Doch Holly weiß um ihre Traumata, kennt die Dämonen, die sie quälen – und eben dieses Wissen macht sie souverän, selbst wenn der Alltag „Krise!“ ruft.

Davon gibt’s reichlich im Sommer 2021, in dem der Roman spielt. Hollys Mutter (schwierige Frau, ganz schwieriges Verhältnis) ist gerade gestorben; Corona wütet das zweite Jahr auch in den USA, was King nutzt, um ein tief zerrissenes Land zu zeigen: uneinig in der Beurteilung der Seuche, uneinig in der Frage des Impfens, uneinig (erst recht!), wenn’s um Trump geht. In dieser Zeit erreicht Holly, die inzwischen die Agentur „Finders Keepers“ leitet, der Anruf der besorgten Penelope Dahl, deren erwachsene Tochter wie vom Erdboden verschluckt zu sein scheint. Die Ermittlerin übernimmt die Suche und arbeitet sich trotz erschwerter (Corona-)Bedingungen so weit vor, dass sie bald eine ganze Liste ungelöster Vermisstenfälle hat. Offen ist nur, ob und wie diese zusammenhängen – ob sie, wie es Bill Hodges wohl ausdrücken würde, tatsächlich ein Omelett ergeben.

Ihre Recherchen führen Holly zeitweise ins Akademikermilieu der „alten Stadt, die nicht mehr in besonders gutem Zustand ist“, wo sie das Professorenpaar Harris kennenlernt: sie Anglistin, er Biologe und Ernährungswissenschaftler, beide jenseits der 80, beide definitiv füreinander bestimmt. Wobei der Autor offenlässt, ob das Turteln der betagten Eheleute nur liebreizend oder schon drüber ist. Dass beide indes mehr mit dieser Geschichte zu tun haben, wissen die Leser lange vor der Protagonistin – es spricht jedoch für Kings Können, dass dieser Erkenntnisvorsprung die Spannung nicht abflachen lässt. Nach seinem überkonstruierten Roman „Fairy Tale“ aus dem vergangenen Jahr ist das eine sehr gute Nachricht.

Den Handlungsstrang rund um das Bell College of Arts and Sciences nutzt der Schriftsteller einmal mehr für hinreißende Liebeserklärungen an die Welt der Literatur, an Autorinnen und Autoren, an die Magie des Schreibens und Lesens. Zwar ist dieser Aspekt nicht so ausgeprägt wie bei seinem fantastischen „Billy Summers“ (2021) – doch erleben wir in „Holly“ ebenfalls das Erwachen eines Talents. Es sind mit die schönsten Szenen, und wer davon nicht genug kriegen kann, dem sei Kings Autobiografie „Das Leben und das Schreiben“ aus dem Jahr 2000 empfohlen.

Seine eigenen Qualitäten als Schriftsteller zeigen sich dabei oft in unscheinbaren Sätzen. Da ist etwa eine Mutter, deren Sohn verschwunden ist; ihr Schmerz „riecht nach Gin“. Oder da sind die beeindruckenden Bilder, die King findet, um mit Sprache dem nahezukommen, was in einem Alzheimerpatienten vor sich geht. Vor allem aber ist „Holly“ eine packend erzählte Kriminalgeschichte, eine blutige Parabel, die zeigt, wozu der Hunger nach Leben manche Menschen bringen kann.

Stephen King:

„Holly“. Aus dem amerikanischen Englisch von Bernhard Kleinschmidt.

Heyne Verlag, München, 640 Seiten; 28 Euro.

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