Wenn Joseph Haydn in seinem Weltentstehungsoratorium „Die Schöpfung“ neben Nachtigall, großen Walfischen, gelenkigem Tiger und edlem Ross selbst das „Heer der Insekten“ und das kriechende Gewürm liebevoll besingen lässt, dann darf man wohl auch mit Empathie feststellen: Nun ist der Frosch endlich ins Wasser gesprungen. Denn nach dem plötzlichen Tod des außerordentlich geliebten Mariss Jansons 2019 hat Simon Rattle nun den Posten des Chefdirigenten beim Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks übernommen. Am Donnerstag war, eben mit Haydns „Schöpfung“, sein offizieller Einstand im Münchner Herkulessaal, und keiner würde in Überschwang verfallen, wenn er die all- und gegenseitige Umarmung aller Beteiligten im Saal als ausgesprochen warm, herzlich und freudig kennzeichnete.
Die Intendantin des BR, Katja Wildermuth, schwärmte zum Auftakt gleichsam mit hohem Sopran von Rattles bekannter kreativer Offenheit, seinem Brückenbau hinein in die Gesellschaft und seinen Education-Projekten; Rattle selbst schloss sein neues Orchester und den Chor außerordentlich unprätentiös in seine der Musik dienenden Dirigentenarme; die Musiker hingen geradezu an seinen Lippen; das Auditorium ließ ihn hochleben gleich zur Begrüßung und erst recht, als es gehört hatte, dass es gut war mit den sieben Tagen Weltentstehung. Und Rattle, der sich nach diesem Abend – außergewöhnlich – sogar bei einigen Holzbläsern per Handschlag bedankte, ließ am Ausgang des Herkulessaals auch noch ein Kärtchen ans Publikum verteilen, auf dem in seiner Handschrift die hoffnungsvollen Worte standen: „We can make so much happen here together. Es ist schön, hier bei Ihnen zu sein, was für eine Freude!“
Ja, es wird Hochzeit gefeiert beim Bayerischen Rundfunk. Rattles offizieller Antritt, nachdem er ja seit Jahren durch Konzerte und CD-Produktionen mit dem Symphonieorchester erst verliebt und dann verlobt war, fällt auf einen günstigen Augenblick: Soeben hat die Klassik-Website Bachtrack anhand der Bewertungen durchaus namhafter Musikkritiker befunden, dass das BR-Symphonieorchester nach den Berliner und Wiener Philharmonikern das drittbeste in der Welt sei und Sir Simon der global zweitbeste Dirigent. So fragwürdig derlei ist: Vollkommen abwegig sind solche pauschalen Einordnungen zumindest tendenziell wiederum auch nicht. Für den BR jedenfalls bedeuten sie mitreißendes Wasser auf die Mühlen.
Demgegenüber wird die Stimmung freilich ein wenig gebremst durch die nach wie vor offene Frage des neuen Konzerthauses. Für Rattle, dieses bereits gebrannte Kind, der das London Symphony Orchestra auch deshalb verließ, weil dort eben nicht das versprochene neue Konzerthaus entstand, könnte sich die Hängepartie im Werksviertel zum höchst unerquicklichen Déjà-vu entwickeln. Er möchte sich gerne starkmachen für den Neubau, erhält aber von Ministerpräsident Söder offenbar nicht einmal einen Gesprächstermin. Ob der Dirigent bei seinem Publikumsgruß mit den Worten „We can make so much happen here together“ und in Verbindung mit Haydns „Schöpfung“ darauf auch anspielte?
Er selbst sieht das Werk geradezu als prädestiniert zu seinem Einstieg. „Für mich war offensichtlich, mit der ,Schöpfung‘ zu beginnen, denn in ihr steckt alles. Die ganze Welt. Sie ist sowohl ein Blick zurück, als auch ein Blick weit in die Zukunft dessen, was Musik alles sein kann. Sie ist unendlich erhellend, ein Stück Aufklärung eben.“ Und so weltlich farbenprächtig und dramatisch packend er selbst dann das groß besetzte, dankbare, knapp zweistündige Oratorium entstehen ließ, so verbindlich umarmte er gleichsam wesentliche Fraktionen in der Hörerschaft – die Christen, die Pantheisten, die Grünen. Mit nur ein ganz klein wenig Pathos darf behauptet werden: Hier erklang unter der Betonung des Gemeinsamen ein Kosmos der Ideen rund um den Wert der Erde.
Mit anderen Worten: Möge sie nicht so enden, wie die „Schöpfung“ – zugespitzt unter Rattle – beginnt: mit einem nachgerade knallenden Tutti-Akkord als Sinnbild des ursprünglichen Chaos’, gefolgt von einer Lichtexplosion am ersten Tag der Schöpfung. Noch schöner als den glänzenden Aufgang der Sonne besang der hell timbrierte, reine, sensible Tenor Benjamin Bruns (Uriel) den sanften Schimmer des aufsteigenden Mondes, während Christian Gerhaher als Erzengel Raphael/Adam mit geradezu musikdramatischer, alttestamentlicher Wucht und exemplarischer Prononcierung für biblische Glaubensgewissheit einstand. Lucy Crowe (Gabriel/Eva) schließlich betörte mehrfach durch schlichte, liedhafte Volksfrömmigkeit, auch wenn sie in der Höhe immer mal wieder forcieren musste.
Chor (Einstudierung: Peter Dijkstra) und Orchester: erwartungsfroh angespannt. Dass der Abend auf diesem Niveau gelang – im ersten Teil betörend durchgestaltet, im zweiten Teil etwas pastoser, immer jedoch das Kollektiv pflegend –, lässt für die kommenden Jahre bis 2028 Berührendes erwarten.