„Chancengleichheit ist eine Lüge“

von Redaktion

Lucia Bihler über „Die Zofen“ im Volkstheater

„Es gibt keine Authentizität“, sagt die Regisseurin Lucia Bihler (Jahrgang 1988), „alles ist Folge von sozialen Umständen.“ Genau dieses Dilemma ist Gegenstand von Jean Genets absurdem Drama „Die Zofen“ (1947), mit dem die Münchnerin am Freitag die Spielzeit im Volkstheater eröffnet. Zwei Schwestern proben den Aufstand gegen ihre Herrin – ein Spiel im Spiel, doch letztlich bietet nur der Tod ein Entkommen aus der gesellschaftlichen Rolle. Wir trafen Bihler vor der Premiere zum Gespräch.

Was interessiert Sie an diesem Drama besonders?

Ich finde das Spiel der beiden Schwestern sehr lustvoll und konkret: Die Aneignung der Gesten der gnädigen Frau, das Verkörpern und Erspüren einer anderen Identität eröffnet einen Möglichkeitsraum: Man könnte sein, was man nicht ist – eine andere Schicht, eine andere Klasse.

Ist dieses Ritual ein Weg, die Realität zu überleben?

Ja, und es ist auch eine Art Revolutionsübung: Sie üben, die gnädige Frau umzubringen. Auch darin finde ich das Stück sehr aktuell: Warum können sie sich nicht aus diesem Machtverhältnis lösen? Das ist die große, tolle Frage, die Genet einem mitgibt und anhand der man von Klassismus und der Verschleierung durch Güte erzählen kann.

Wodurch entsteht die Abhängigkeit der Zofen?

Eigentlich lieben sie die gnädige Frau. Durch deren Gaben stehen sie in einer Art Schuld, aus der sie sich nie befreien, weil sie sich materiell nicht freikaufen können. „Gnade“ bedeutet hier die Manifestierung des Machtverhältnisses. Die Revolution funktioniert aber auch darum nicht, weil sie das System, das sie zerstören wollen, eigentlich für sich haben wollen. Denn das Normative in unserer Gesellschaft ist: Reich ist toll, Arm ist schlecht. Diese Werte sind so sehr in uns eingeschrieben, dass wir oft nicht anders denken können. Es ist also eine strukturelle Frage. Letztendlich ist Identität immer geprägt von Gesellschaft, es gibt kein wahres Ich.

Der zweite Aufstand der Schwestern richtet sich gegen sie selbst: Hassliebe verbindet sie.

Ja: Im Spiegelbild sehen die Schwestern, was sie sind und wer nicht. Sie sind Zwillinge im ständigen Machtkampf. Zusammen festhängen, zusammen rauswollen … und doch schreibt Genet ihnen kein gemeinsames Ende. Das finde ich toll – und richtig traurig. Es ist mir ein Anliegen, dass das Publikum diese Hoffnungslosigkeit spürt und Haltung bezieht. Chancengleichheit ist eine Lüge.

Das Spiel mit Identitäten beginnt damit, dass Genet die drei Frauenrollen mit Männern besetzt.

Es gibt ein tolles Zitat von Ru Paul: „We are all born naked and the Rest is drag.“ Es gibt nicht Männer und Frauen, es gibt soziale Rollen und Zuschreibungen und ein binäres System, das wir über alles drübergepackt haben. Ich besetze eigentlich immer ein bisschen cross, weil ich gern dahin kommen würde, dass irgendwann alle alle spielen können und dürfen.

Dazu passt, dass Genet Distanzierung forderte statt Identifikation.

Bei Genet geht es nicht um Realismus, es geht um Schein und Lüge und um Darstellung. Mit dieser Zeichenhaftigkeit kann man im Theater wahnsinnig gut spielen und erzählen. Ich stelle immer eine Kunstwelt, einen hermetischen Kosmos auf die Bühne, man sieht die Konstruktion, wie etwas gemacht ist. Hier ist es eine Art Geisterhaus, in dem die Zofen gefangen sind. Gleichzeitig will ich verführen: Sinnlichkeit ist das große Potenzial von Theater.

Haben Sie mal daran gedacht, dem Stück ein positives Ende zu geben?

Ja, total. Die einzige Form von Freiheit liegt nur in der Gewalt gegen sich selbst – ich habe am Anfang großen Widerstand gegen dieses Ende gehabt, aber dann sehr schnell eingesehen, dass es so sein muss, damit das Publikum mit dem Gefühl rausgeht: Ich will, dass sich etwas ändert. Aber inwieweit können wir uns in Europa überhaupt noch etwas vorstellen, das antikapitalistisch ist? Ein großes Thema.

Das Gespräch führte Teresa Grenzmann.

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