Tauwetter für die Seele

von Redaktion

„Im Menschen muss alles herrlich sein“ zum Saisonauftakt an den Münchner Kammerspielen

VON MICHAEL SCHLEICHER

Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst der Erinnerung. Damit jedoch ist nicht zu spaßen. Denn Erinnerung ist ganz persönlich und mitunter total politisch. Vor allem wenn man in einem Land aufgewachsen ist, das es nicht mehr gibt. Vor allem wenn man eine Frau ist, derweil Geschichte noch immer von Männerhänden geschrieben wird.

Sasha Marianna Salzmanns Roman „Im Menschen muss alles herrlich sein“, der ein Tschechow-Zitat zum Titel hat und 2021 bei Suhrkamp erschienen ist, stellt indes Frauen ins Zentrum. Frauen wie Lena und Tatjana, die im ukrainischen Teil der Sowjetunion erwachsen wurden und nach dem Zusammenbruch der UdSSR in Deutschland gestrandet sind. Das Buch ist eine schillernde, intensive Reise durch die Zeitläufte, ein Schürfen in den Biografien der Figuren. Erzählt wird, was die Umbrüche, die Familie, die Gesellschaft mit den Protagonisten angestellt haben: Warum alles wurde, wie es ist – und ob’s einen Weg raus gibt aus der ganzen Nummer. Das treibt vor allem Edi und Nina um, die Töchter von Lena und Tatjana, die auf je eigene Weise dem Leben ihrer Mütter begegnen. Salzmann glücken dabei immer wieder Sätze, die sich aufgrund ihrer Wärme und Wahrhaftigkeit in Herz und Hirn buddeln.

Zum Spielzeitstart an den Münchner Kammerspielen haben Regisseur Jan Bosse und Dramaturgin Viola Hasselberg den Roman, der plastisch, punktgenau und dennoch farbsatt ist, für die Bühne adaptiert. Am Samstag war Premiere des drei Stunden und zehn Minuten langen Abends (eine Pause). Bosse und seinem starken Ensemble gelingt es dabei sehr unterhaltsam, ein Fenster in die Historie aufzureißen. Denn die Inszenierung blickt zwar auf einzelne Charaktere – findet in ihnen aber Allgemeingültiges und unbedingt Erzählenswertes.

Stéphane Laimé hat dafür eine herrlich runtergerockte Kneipe auf die Bühne des Schauspielhauses gebaut. Hierher, nach Jena, wo sie inzwischen lebt, hat Lena eingeladen – zu ihrem 50., vor allem aber, um „Versöhnung“ zu feiern. Diese Party, bei der die Sprachlosigkeit zwischen den Leuten der prominenteste Gast ist, dominiert den zweiten Teil der Produktion. Im ersten erleben wir das Aufwachsen von Lena und Tatjana ab den Siebzigern in der sowjetischen Provinz; Zeit- und Personenwechsel glücken dabei elegant. Verbunden sind Charaktere, Motive, Schauplätze zudem durch die feine Musik von Carolina Bigge, deren Gitarrenspiel die Fäden der Erinnerungen weiterspinnt und miteinander verwebt.

So entsteht ein wuchtiges Panorama aus Hoffen und Hadern, aus Anpassung und Ausschweifung, aus Lügen und Lieben, aus Enttäuschungen, Ignoranz, Verständnislosigkeit. Die neun Schauspielerinnen und Schauspieler verraten ihre Figuren dankenswerterweise nie für eine Pointe – vielmehr glücken ihnen immer wieder Momente von großer Klarheit, die begreifen lassen. Nichts fällt hier auseinander; „Im Menschen muss alles herrlich sein“ ist eine überzeugende Ensemble-Arbeit.

In der Rückwand der Gaststätte, neben der Jukebox, ist ein Fenster, das völlig vereist ist. Es schmilzt im Lauf des Abends; Nina, als Vertreterin der jungen Generation, wird zudem Stücke herausschlagen. Tauwetter hat einst das Ende der Sowjetunion möglich gemacht – das Eis auf den Seelen der Menschen aber ist hartnäckiger.

Nächste Vorstellungen

am 3., 6., 8. und 20. Oktober; Telefon 089/233 966 00.

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