Eine starke Stimme

von Redaktion

PREMIERE „Wüstenblume“ nach Waris Dirie gastiert am Deutschen Theater

VON TOBIAS HELL

Mögen es heute auch meist die bunten Jukebox-Shows und Gute-Laune-Stücke à la „Mamma Mia“ sein, die wir mit dem Genre verbinden, so lassen sich auf der Musicalbühne sehr wohl ab und zu auch ernste Themen verhandeln. Das beweist aktuell das Deutsche Theater, das als Übernahme aus St. Gallen die gefeierte Produktion von „Wüstenblume“ zeigt. Es ist die bewegende Lebensgeschichte des ersten afrikanisch stämmigen Topmodels Waris Dirie, die auf dem Höhepunkt ihrer Karriere ihren Ruhm nutzte, um die Welt auf die barbarische Sitte der weiblichen Genitalverstümmelung aufmerksam zu machen. Es war die Initialzündung eines bis heute andauernden Kampfes um die Rechte junger Mädchen.

Mut zeigte Waris jedoch schon weit früher. Als sie sich im Alter von 13 Jahren der Zwangsheirat entzog, allein ihre Flucht durch die somalische Wüste antrat und nach harten Jobs als Hilfsarbeiterin den Weg nach London fand. Das alles rauscht im Musical zunächst sehr episodenhaft durch, und gerade das erste Drittel der Show liefert mit Anklängen an den „König der Löwen“ und klischeehaftem Ethno-Pop oft eine ziemlich europäisch wirkende Sicht auf Afrika. Da hätte etwas mehr Diversität im Kreativteam rund um das Autorenduo Gil Mehmert/Frank Ramond und den Komponisten Uwe Fahrenkrog-Peters nicht geschadet.

Doch nach Waris’ Ankunft in London wird die Erzählung zunehmend dichter. Und auch Kerry Jean als Titelheldin bekommt nun tiefgründigere Songs, bei denen sie die innere Zerrissenheit ebenso spürbar macht wie den wachsenden Kampfgeist ihrer Figur. Damit knüpft sie nahtlos dort an, wo Naomi Simmonds als junge Waris begonnen hatte: Zwei überragende Hauptdarstellerinnen, die ihre emotional fordernde Rolle mit starker Stimme und einnehmender Präsenz ausfüllen und den Abend durch diese fesselnde Leistung zum Erfolg führen. Wobei Denise Lucia Aquino nicht unerwähnt bleiben soll, die als lebensfrohe Marilyn nicht nur zum Anker für Waris wird, sondern der Show ebenso Momente zum Schmunzeln und Durchatmen verleiht.

Männer haben in der Geschichte dieser starken Frau (mit Recht) nur wenig zu melden und könnten zur Straffung sogar noch weiter in den Hintergrund rücken. Denn Gelegenheit, sich stimmlich zu profilieren, bekommt eh nur Joachim Kaiser als Waris’ Schein-Ehemann, der ihr zum europäischen Pass verhilft, damit aber naturgemäß nur eine kurze Nebenrolle spielt.

Das Ende bleibt bewusst offen und berührt einen gerade dadurch umso mehr. Kein jubelndes Finale, sondern ein stilles Ausblenden nach der erschütternden, von Kerry Jean mit jeder Faser ihres Körpers durchlebten Rede vor der UN-Vollversammlung. Ein Song, der uns noch einmal erinnert, dass weiterhin täglich tausende junger Mädchen das gleiche Schicksal erleiden wie Waris Dirie, die sich zum Schlussapplaus zumindest kurz selbst auf der Bühne zeigt.

Das Publikum im Saal steht da schon lange und applaudiert ihrer unglaublichen Lebensgeschichte, die der Welt weiterhin erzählt werden muss – als Buch, Film oder eben jetzt als Musical. Denn der Kampf, den Dirie gemeinsam mit der von ihr ins Leben gerufenen Desert Flower Foundation führt, ist noch lange nicht gewonnen.

Weitere Vorstellungen

bis 15. Oktober; www.deutsches-theater.de.

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