Sprechstunde beim Bariton

von Redaktion

Benjamin Appl über den Sänger als Arzt, Veränderungen im Liedgesang und CD-Projekte

Ruhezeiten kennt der Mann kaum. Rund 120 Auftritte hat Benjamin Appl pro Jahr, an diesem Samstag und Sonntag ist der 41-jährige Bariton bei den Münchner Philharmonikern in Gabriel Faurés „Requiem“ zu hören. Längst ist Regensburger mit Wohnsitz London in der Lied-Szene eine feste Größe – nicht nur als letzter Privatschüler von Dietrich Fischer-Dieskau. Und gerade hat Appl ein besonderes Schubert-Album veröffentlicht: Lieder in Orchesterfassungen (erschienen bei BR Klassik).

Man hört, dass Sie aus Regensburg stammen. Mussten Sie sich das für den Gesang abtrainieren? Oder darf eine Dialektfärbung sein?

Ein paar Dinge musste ich mir abtrainieren. Aber ich hoffe, dass man es beim Singen nicht hört. Solange alles fürs Publikum verständlich ist, darf unter Umständen eine Färbung schon sein – als Ergänzung zu den anderen Vokalfarben beim Gesang.

Sie haben innerhalb kurzer Zeit gleich zwei CDs veröffentlicht. Daher scheinen Sie an dieses Medium noch zu glauben.

Ich bekenne mich noch dazu. Sicher wird sich vieles verändern. Und jetzt sind wahrscheinlich die letzten Jahre, in denen überhaupt noch Platten gepresst werden. Ich sehe eine CD als Visitenkarte. Und bin mir noch nicht sicher, wohin die Reise in der Klassik geht. Populäre Klassiksender bieten kaum noch Gesang. Bei der aktuellen Schubert-Aufnahme mit dem Münchner Rundfunkorchester hatten wir wirklich den Luxus, sechs Tage ins Studio zu gehen. So etwas ist sehr rar geworden.

Und wenn man etwas aufnimmt, muss es der besondere Dreh sein wie Schubert-Lieder in Orchesterfassungen oder Ihr Album „Forbidden Fruit“? Weil man mit der 1000. „Schönen Müllerin“ untergeht?

Na, es kommen ja noch viele „Müllerinnen“ heraus. Wenn ich an die Generation Dietrich Fischer-Dieskau in der Nachkriegszeit denke, dann war er zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Er durfte fast alle Schubert-Lieder aufnehmen. Und er hat vieles aus diesem Repertoire eingespielt, was es noch gar nicht auf Platte gab. Was kann also unsere Generation zu diesem Repertoire beitragen? Da ist es für mich oft spannender, ein Schubert-Lied in einen anderen Kontext zu stellen und das Publikum auf eine andere Reise mitzunehmen. Man holt die Menschen also an einem Punkt ab und bringt sie in eine neue Richtung. Konzeptalben bieten die Möglichkeit, mit Emotionen zu spielen, mit denen sich der eine oder die andere identifizieren kann.

Was bedeutet das für die Interpretation?

Für mich ist das Emotionale wichtiger als das Intellektuelle in der Weitergabe eines Liedes. Das ist wie bei einem Arzt: Er verfügt über das gesamte Wissen. Dann kommt ein Patient, dem etwas fehlt. Und nun braucht der Arzt die Gabe, auf diesen Patienten individuell zu reagieren – wie viel er von der Diagnose versteht, was er benötigt und so weiter. Auch ein Priester muss sich sonntags in der Predigt so ausdrücken, dass die Menschen etwas mitnehmen können. Als Liedsänger muss ich alles intellektuell erfassen. In der Aufführung dann muss ich über Emotionalität, über den Gesichtsausdruck, über Farben die Essenz der Stücke vermitteln.

Im Liederabend ist man als Künstler komplett nackt, ohne schützendes Kostüm. Mussten Sie sich daran gewöhnen oder machte Ihnen das nie etwas aus?

Ich bin froh, dass ich damit früh begonnen habe. Kolleginnen und Kollegen von der Oper fühlen sich im Liederabend oft unwohl. Außerdem gerät man immer wieder in eine neue Situation – weil es so viele Parameter gibt. Im Publikum braucht es nur eine Person, die einen verunsichern kann. Aber das ist wiederum das Spannende. Ich versuchte früher immer, jeden Abend im gleichen emotionalen, psychischen, auch interpretatorischen Zustand zu sein. Das trieb mich in die Enge. Jetzt versuche ich, die Erfahrungen meines Tages mit auf die Bühne zu nehmen – und auf die aktuelle Situation im Publikum zu reagieren, also etwas zuzulassen. Dadurch wird jeder Abend anders.

Wie groß ist im Konzert Ihr kleines Kontrollmännchen auf der Schulter?

Das wechselt jeden Abend. Wenn man alles emotional quasi abschießt, muss man sich schon schnell zusammenreißen. Das Schönste auf der Bühne ist, wenn man die Freiheit genießt, als ob gerade alles gelingt. Fischer-Dieskau hat mir einmal gesagt, es habe nur fünf Tage pro Jahr gegeben, an denen er sich wohlgefühlt hat auf der Bühne.

Frustrierend, oder?

Na ja, wenn’s dann funktioniert, reicht das Brot für die nächsten Monate. Letztlich nehmen wir uns alle zu ernst. Wir müssen uns klarmachen: Was wir tun, verletzt ja keinen oder bringt keinen um. Wir sind alle Menschen, die ihr Bestes versuchen. Sonst agiert man viel zu unsicher.

Sind Opernsänger eigentlich cooler, abgebrühter als Liedsänger?

Wenn ich als Liedsänger uncooler sein sollte, dann nehme ich das gern in Kauf. In der Oper gibt es zum Beispiel einen viel längeren Probenprozess. Das sichert vieles ab. Wir Liedsänger sind vom Repertoire her in einer Sondersituation. Wir haben ein kleines, sehr loyales Publikum. Und trotzdem müssen wir auch woanders fischen – und dürfen dabei die eher traditionell Gesinnten nicht verärgern. Ich mache zum Beispiel jetzt live ein Programm mit Orgel, Akkordeon und Stimme. Oder eines mit Harald Krassnitzer. Es ist eine ständige Gratwanderung – das macht es risikoreich, aber auch extrem spannend.

Das Gespräch führte Markus Thiel.

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