Sie hat den Caféhaustisch einfach gleich mitgebracht. Aleksandra Pavlović hat das Requisit vorne rechts auf der Bühne des Cuvilliéstheaters platziert, Orest und seine Lehrerin werden hier debattieren und philosophieren. Das schließlich zeichnet viele Theaterfiguren Jean-Paul Sartres aus: Sie reden, also sind sie. So ist das auch im Drama „Die Fliegen“ von 1943, mit dem das Bayerische Staatsschauspiel am Samstag die Saison eröffnet hat. Und allein dieses Tischchen zeigt, wie charmant entspannt und klug Hausregisseurin Elsa-Sophie Jach das Stück des Philosophen und Schriftstellers in Szene gesetzt hat.
Sartre (1905-1980) deutete einst unter dem Eindruck der deutschen Besatzung Frankreichs im Zweiten Weltkrieg und der Kollaboration des Vichy-Regimes die „Orestie“ von Aischylos um. Er nutzte die Tragödie der Atriden, um zu zeigen, wie sich Unterdrückung durch Widerstand und Freiheitswillen bezwingen lässt. Orest kehrt aus dem Exil in seine Heimatstadt Argos zurück, wo 15 Jahre zuvor sein Vater Agamemnon von dessen Frau Klytämnestra und ihrem Geliebten Ägisth gemeuchelt wurde. Der Heimkehrer erkennt, dass seine Mutter und ihr neuer Gatte die Stadt knechten und in emotionale Geiselhaft genommen haben, indem der König den Menschen die Schuld an der Ermordung Agamemnons aufgeladen hat. „Eine ganze Stadt bereut für ihn. Reue bemisst man nach Gewicht.“
Orest, dem bewusst wird, dass er frei ist, also weder Göttern noch Herrschern verpflichtet, nimmt den Terror von den Seelen der Gequälten, indem er das Königspaar tötet, sich dazu bekennt – und die Last der Angst und der Schuldgefühle, für die Sartre das Bild des Fliegenschwarms fand, auf sich zieht. Es kommt eben doch auf jeden Einzelnen an.
Jach, die ihre Spielfassung nach der neuen Übersetzung des Stücks von Magnus Chrapkowski gemeinsam mit Dramaturg Michael Billenkamp erarbeitet hat, liest die „Fliegen“ konsequent heutig als Kommentar auf den Klimawandel. Dazu hat ihr der Dramatiker Thomas Köck einen Pro- und Epilog geschrieben, der diesen Ansatz vertieft und reflektiert. Der Österreicher, dessen Stück „paradies fluten“ aus seiner Klimatrilogie am Volkstheater lief und dessen erhellende, obendrein sehr unterhaltsame Kolonialismus-Analyse „eure paläste sind leer“ 2021 an den Kammerspielen uraufgeführt wurde und nach wie vor zu sehen ist, zeigt in wunderbar gedrechselten Sätzen wie nebenbei, dass Ökologie nicht ohne Ökonomie zu denken ist – und umgekehrt. Jach lässt diese Texte, die den zweistündigen Abend rahmen, im Backstagebereich spielen und auf einen Gazevorhang projizieren; die Szenen verknüpfen so geschickt die (Schein-)Welt des Theaters mit unserem Alltag.
Argos selbst wird bei ihr zu einem dystopischen Ort, an dem das cleane Grauen der Science-Fiction herrscht. In dieser schönen neuen Welt findet die Regisseurin immer wieder starke Bilder, die zusätzlich intensiviert werden durch die technoiden Kompositionen von Max Kühn und den Chor der Fliegen, dessen Gesang ebenso Eindruck macht wie dessen Körperlichkeit. Da hätten sich Jach und Ausstatterin Pavlović das ein oder andere Ausbuchstabieren ihrer Botschaft – etwa den Kronleuchter aus Überwachungskameras – sparen können: Es ist doch trotzdem alles klar.
Erst recht, wenn man mit einem derart starken Ensemble arbeitet – allen voran mit Vincent zur Linden und Lisa Stiegler. Er zeichnet den Weg seines Orest vom Grübeln übers Erkennen zum Handeln empathisch nach; sie wertet Elektra durch ihr präsentes und umsichtiges Spiel nicht nur auf, sondern bildet das Kraftzentrum der Inszenierung.
Wie intensiv und gut die beiden ihre gemeinsamen Szenen gestalten, zeigte sich bei der Premiere auch völlig unvorhergesehen: Nach dem Kollaps einer Zuschauerin in Reihe acht musste die Vorstellung mehrere Minuten bei Saallicht unterbrochen werden. Stiegler und zur Linden gelang es danach mühelos, Atmosphäre und Rhythmus der Produktion zurückzuholen. Chapeau! Nach der Vorstellung wurde dann bekannt, dass sich die Zuschauerin erholen konnte. Sie hat allerdings einen starken Spielzeitauftakt verpasst, der heftig beklatscht wurde.
Nächste Vorstellungen
heute sowie am 13. und 16. Oktober; Telefon 089/21 85 19 40.