Der Münchener Bach-Chor erlebt eine Zeitenwende. Mit Beginn dieser Saison hat erstmals eine Frau die Leitung des von Karl Richter gegründeten Ensembles übernommen. Und dazu noch eine, die aus der Alten Musik kommt und für historisch informiertes Musizieren steht: Johanna Soller, umtriebige und mehrfach ausgezeichnete Dirigentin, Organistin und Cembalistin. Wir trafen die 34-Jährige zum Gespräch.
Wie sind Sie ins Blickfeld des Chores geraten, der nach dem Ausscheiden von Hansjörg Albrecht eine neue Leitung suchte?
Ich war bereits von 2014 bis 2020 Assistentin und Korrepetitorin beim Bach-Chor, habe Einstudierungen etwa für Konzerte in Israel, Italien oder beim Verbier Festival übernommen und auch beim Bach-Orchester als Cembalistin im Continuo gespielt. Mein Vertrag geht zunächst über drei Jahre.
Wieso starten Sie Ihre erste Saison mit Carl Orffs „Carmina burana“?
Das war nicht meine Entscheidung. Die Planung für dieses Konzert war schon vorher abgeschlossen. Aber die erste Konzerthälfte mit Brahms’ „Schicksalslied“ und Mendelssohns „Hebriden-Ouvertüre“ habe ich ausgewählt.
Als gleichzeitige Chefin des Bach-Orchesters planen Sie einen tiefgreifenden stilistischen Umbau: Es wird zum Ensemble, das auf Originalinstrumenten spielt und sich der historischen Aufführungspraxis verpflichtet fühlt.
Das Münchener Bach-Orchester ist ja kein festes Ensemble, sondern speist sich für die jeweiligen Projekte aus einem Pool an unterschiedlichen Musikerinnen und Musikern. Wie gewohnt weiterhin auch aus Mitgliedern der großen Münchner Ensemble, aber nun auch aus dezidierten Barock-Spezialisten, mit denen wir die großen Werke unseres Namensgebers interpretieren werden. Selbstverständlich auch andere Barock-Kompositionen oder Werke von Mozart.
Bedeutet das eine Einengung des Repertoires?
Keineswegs. Ich schließe beim Repertoire erst einmal nichts aus. Der Bach-Chor hat seit seiner Gründung immer auch Werke der Klassik und Romantik bis hin zur Moderne aufgeführt. Die Größe des Chores mit 60 bis 80 aktiven Sängerinnen und Sängern ist entscheidend für das Ensemble. Wunderbar etwa für Reger-Motetten! Der Klangkörper muss dabei immer flexibel sein und bei Haydn anders klingen als bei Reger.
Sie wollen einen Schwerpunkt auf die A-cappella-Arbeit mit dem Chor legen.
Ja, diese Pflege des unbegleiteten Gesangs ist auch für ein so großes Ensemble wie den Bach-Chor wichtig. Er soll allerdings nicht nur in puncto Repertoire, sondern auch in der Besetzung möglichst flexibel sein. Werk, Ort und Besetzung müssen stimmig sein. Ab 2024 planen wir eine neue Reihe in St. Markus.
Womit und warum ausgerechnet dort?
Dieser Kirchenraum eignet sich perfekt für den A-cappela-Musik. Orgelstücke, instrumentale Kammermusikwerke und Lesungen sollen das Programm, das entweder einem Komponisten oder einem Thema gewidmet sein kann, runden. Und es ist ein „Zurück zu den Wurzeln“. Karl Richter war ja Organist an St. Markus und hat übrigens dort auch schon solche Konzerte veranstaltet.
Apropos Karl Richter: Er hat Chor und Orchester 1954 gegründet. Mit Harnoncourt und all seinen Kollegen aus der Alten-Musik-Szene hat sich schon vor vielen Jahren eine ganz andere Welt aufgetan, in der Sie aufgewachsen sind. Verbindet Sie trotzdem etwas mit Richter?
Er hat als Ensemble-Gründer mit dem damals jugendfrischen Bach-Chor und seinem Orchester Unfassbares erreicht. Richters unbedingte Hingabe und seine Suche nach Tiefe beeindrucken mich schon. Aber ich habe, was Interpretation und Klanggestaltung betrifft, naturgemäß völlig andere Vorstellungen und Ziele.
Welche Vorbilder haben Sie dann?
Ich verehre meine Münchner Lehrerin, die Cembalistin Christine Schornsheim, und die Barock-Cellistin Kristin von der Goltz als Musikerinnen wie als starke Persönlichkeiten. Und ich bewundere den Dirigenten Philippe Herreweghe, bei beim ich einmal hospitiert habe. Wie er in Jahrzehnten sein Collegium Vocale geformt hat, beeindruckt mich sehr.
Wie sieht es für Sie als Freischaffende mit Ihren „Nebenbeschäftigungen“ aus. Behalten Sie die bei?
Ja, ich werde weiter die Orgel in St. Peter spielen, Projekte mit meiner Capella Sollertia umsetzen und auch im Rahmen meines Lehrauftrages an der Münchner Musikhochschule mit den Gesangsstudentinnen und -studenten meiner Oratorienklasse weiter arbeiten.
Wie sieht es mit der Oper aus, da haben Sie ja auch schon erste Erfolge eingefahren.
Natürlich würde ich auch auf diesem Gebiet in Zukunft das ein oder andere Projekt dirigieren. Zuletzt war ich mit dem Freiburger Barockorchester in Händels „Saul“ im Theater an der Wien als Studienleiterin engagiert. Solche Projekte sind natürlich extrem verlockend…
Gibt es schon Pläne für die Zusammenarbeit mit anderen Ensembles?
Nein, aber ich muss ausgerechnet bei der ersten Münchner Matthäuspassion meiner Amtszeit, am Karfreitag 2024, passen. Ich werde vor Ostern die Tournee der Nederlandse Bachvereniging mit Bachs Matthäuspassion leiten – das war bereits geplant, bevor ich vom Bach-Chor engagiert wurde. Deshalb wird Yuval Weinberg, Chef des SWR-Vokalensemble Stuttgart, in München die Leitung übernehmen, was mich sehr freut. Eine andere Handschrift, einen anderen Blickwinkel durch einen Gastdirigenten halte ich grundsätzlich immer für fruchtbar für alle Beteiligten.
Aber jetzt geht es zuerst einmal darum, dass Sie Bach-Chor und -Orchester durch Ihre Arbeit prägen.
Ich freue mich sehr auf die Proben und das Zusammenwachsen! Ich kenne das Potenzial des Chores und bin voller Tatendrang, gemeinsam spannende Interpretationen und einen ganz neuen, besonderen Klang zu erarbeiten.
Das Gespräch führte Gabriele Luster.
Konzert
am 22. Oktober, 15.30 Uhr, in der Isarphilharmonie; Telefon 089/93 60 93.