Ein Ereignis

von Redaktion

PREMIERE Das Münchner Metropoltheater startet mit „Das achte Leben“ in die Spielzeit

VON ULRIKE FRICK

Ein Jahr jünger als das zu Ende gehende Jahrhundert ist Stasia Jaschi, als sie stirbt. 99 Jahre voller Liebe und Hass, Schmerz und Entbehrung für die Georgierin und ihre Familie. Dabei schien anfangs alles so glänzend vorgezeichnet zu sein für die Schwestern Stasia und Christine. Die Russische Revolution und der Erste Weltkrieg beenden nicht nur die Zarenzeiten, sondern auch das behütete Leben dieser Familie. Knapp 1300 Seiten umfasst das Tolstoi-haft üppige Epos „Das achte Leben (Für Brilka)“ von der 1983 in Tiflis geborenen und seit 2003 in Deutschland lebenden Autorin Nino Haratischwili. Fünf Generationen treten in dem Mammutroman auf, in dessen Zentrum die immer wieder aufs Neue zu Opfern gewordenen Frauen stehen.

Jochen Schölch, Chef am Münchner Metropoltheater, hat aus dem gewaltigen und dennoch sehr süffig zu lesenden Text einen trotz knapp vier Stunden Dauer keine Minute zu langen, höchst kurzweiligen Abend gezaubert. Auch bei ihm ist es wie überall in der Historie: Die Männer zetteln aus Macht- oder Habgier Auseinandersetzungen an, und die Frauen müssen die Folgen aushalten. Mit der Schicksalsfülle, die Haratischwili auf ihre Leser niederprasseln lässt, geht Schölch elegant um. Er strafft, formt geschmeidig neu und bedient sich origineller Kunstgriffe, um zu kürzen und Orientierung zu geben. So markiert etwa je eine Jacke, die eine männliche Figur der Partnerin unter den Pullover stopft, dass diese schwanger ist. Fällt sie heraus, streift sie sich derjenige über, der fortan die Rolle des Kindes übernimmt. Stirbt eine Figur, hängt sie beim Verlassen der Bühne ihre Jacke an die den Raum flankierenden Kleiderpuppen.

Es ist – neben dem großartigen Ensemble – vor allem die auf den ersten Blick spartanisch anmutende, auf den zweiten Blick aber überaus klug konzipierte Ausstattung (Bühne: Thomas Flach, Kostüme: Nicole Dannecker-Jätten), die diese Inszenierung zu einem Ereignis werden lässt. Die rohe Ziegelmauer an der Stirnseite dient als Palast wie als Elendsquartier und eignet sich zusätzlich als Leinwand für die Projektion schwarz-weißer Originalaufnahmen von Dubček und den Panzern bei der Niederschlagung des Prager Frühlings oder vom Mauerfall 1989.

Der karg möblierte Raum bietet dem Ensemble herrlich viel Platz zur Entfaltung. Michele Cuciuffos Kostja gelingt es erst im Gespräch mit seiner Enkelin, die emotionale Wunde zu verarbeiten, die ihn einst vom liebestrunkenen Matrosen zum verbitterten Admiral werden ließ. Eli Wasserscheid bringt als Stimme der Gegenwart das Los der Familie mit Vitalität und Optimismus in eine gewisse Balance. Maja Amme als leidende Kitty, Sophie Rogall in wechselnden Parts als Dissidenten-Dichterin oder als um Aufmerksamkeit buhlende, scharfkantige Tochter – ausnahmslos alle neun Darsteller bestechen durch intensives, detailgenaues Spiel. Trotzdem ist es der Abend von Gerd Lohmeyer. Seine feinnervige, leichtfüßige Präzision verleiht dieser von Entsagungen gehämmerten und dennoch unzerstörbar optimistischen Frau eine stille Größe, die man nicht mehr vergessen kann.

Nächste Vorstellungen

am 14., 15., 21., 22. Oktober; Telefon 089/32 19 55 33.

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