Eine coole Socke

von Redaktion

Sir Simon Rattle, neuer Chefdirigent der BR-Symphoniker, leitet „Musica viva“ und das Familienkonzert des Orchesters

VON ANNA SCHÜRMER

Sir Simon Rattle muss sich nicht mehr profilieren – weil er ein klares Profil hat. Seit Jahrzehnten ist der Brite einer der überzeugendsten Charakterdarsteller an den Dirigentenpulten weltweit führender Orchester – weil er eine Vision hat und die Kunst versteht, seine Klangkörper mit ernsthaftem Witz und musischem Charme nachhaltig zu prägen. Zwei Motive ziehen sich durch Rattles lange Laufbahn, die er an diesem Wochenende auch in München in den „Sweet Spot“ gerückt hat: Neue Musik und Musik für junge Menschen, also zwei Profilierungen, die in die Zukunft der klassischen Musikkultur investieren und seiner Amtszeit als Chefdirigent von Chor und Orchester des Bayerischen Rundfunks von Beginn an ein starkes Profil verleihen.

Am Freitagabend gab Rattle in der ausverkauften Isarphilharmonie seinen Einstand bei der „Musica viva“. Dabei ist es keine Selbstverständlichkeit, dass ein neuer Chefdirigent nur wenige Wochen nach seinem Amtsantritt die Sparte der zeitgenössischen Musik bedient – und gleich ein echtes Highlight dirigiert: Luciano Berios „Coro“ für 40 Stimmen und Orchester ist ein Klassiker der Moderne, der doch sträflich selten zu hören ist. Denn das, was die klassische Schiene in ihren Abonnementkonzerten gern übertreibt, kommt in der Neuen Musik oft zu kurz: Repertoirepflege.

Auf der Bühne teilen sich jeweils ein Mitglied aus Chor und Orchester in ähnlichen Tonlagen ein Pult, und man muss sich wirklich fragen, warum sich diese Aufstellung nicht durchgesetzt hat – so unmittelbar einleuchtend und überzeugend ist das Klangergebnis: Stimmen und Instrumente verbinden sich zu einem hybriden Miteinander, erzeugen gemeinsam und jenseits jeder Blockbildung eine transkulturelle Klangwelt. Auch die Uraufführung des Abends braucht sich nicht zu verstecken und hätte es verdient, als Repertoire in einen noch zu schreibenden Kanon der unmittelbaren Gegenwart einzugehen: Kurzweilig und doch unglaublich komplex, gut gebaut und im besten Sinne irritierend ist Vito Žurajs „Automatones“ – zeitgenössische Orchestermusik vom Feinsten. Der slowenische Komponist ist auf dem besten Wege, sich zu profilieren.

Wie eben Sir Simon Rattle, der nicht nur ein fantastischer Dirigent, sondern ein sympathischer Mensch und einfach eine coole Socke ist. Was auch auf Schauspieler Rufus Beck zutrifft, der am Samstagnachmittag im Familienkonzert des BR-Symphonieorchesters in der wiederum ausverkauften Isarphilharmonie als Erzähler durch die „Abenteuer am Riff“ führte. Auszüge aus Claude Debussys „La mer“ und Alexander Skrjabins „Le poème de l’extase“ bilden den farbenreichen Soundtrack zur anrührend komischen Geschichte einer Gruppe von schrullig-sympathischen Tiefseebewohnern: Der launisch-rheinische Krake, ein nordisches Seeschweinchen (Pardon: -pferdchen), eine fußballverrückte Makrele mit Berliner Schnauze und eine enigmatische Auster meistern mit mehr oder weniger Hirn und sehr viel Herz eine Quallen-Invasion und gewinnen dank Becks unglaublichem Dialekttalent ein deutliches Profil.

München und speziell die Klangkörper des Bayerischen Rundfunks können sich wirklich freuen, mit Rattle nicht nur einen profilierten Dirigenten gewonnen zu haben, sondern einen Musiker, der Menschen begeistern kann. Das hört man dem Orchester bereits wenige Wochen nach seinem Start an und macht sich auch am Publikumszulauf bei den Konzerten bemerkbar. Ja, dieser Mann hat Profil – weil er eine klare, zukunftsweisende Vision hat.

Artikel 4 von 11