Heimatlose

von Redaktion

Kammerspiele zeigen den ukrainisch-russischen Abend „Xáta“

VON MICHAEL SCHLEICHER

Abriss oder Aufbau? Das ist unklar in Münchens Kammerspielen. In jedem Fall ist da zum Auftakt von „Xáta – Zuhause“ eine große Baustelle. Ausstatterin Barbora Šulniūtė hat Ziegel, Warnleuchten und jede Menge Abdeckplanen an Gerüsten auf die Bühne im Schauspielhaus gebracht – kaum zu überblicken ist das und macht die Arbeiterinnen im Prolog ratlos. Den beiden hilft da auch der „Doppel-Wumms“ nichts, den sie so engagiert wie überfordert ankündigen.

Es ist der erstaunlich komische Auftakt zu einer Uraufführung, die eine schier unvorstellbare Fallhöhe hat: Die litauische Regisseurin Kamilė Gudmonaitė nennt ihren dokumentarischen Abend daher eine „musikalisch-tänzerische Gratwanderung“. Auf der Bühne stehen Menschen aus der Ukraine und aus Russland, die sich nach München gerettet haben. Doch begegnen werden sie einander in diesen 100 Minuten nie – und sind es auch nicht, seit im Herbst des vergangenen Jahres das Projekt begonnen hat. Das Theater hat dafür seine Logistik geändert, Proben- und Maskenzeiten, Auftrittswege so konzipiert, dass kein Kontakt entstehen musste. Anders sei die Inszenierung nicht möglich gewesen. Unbeteiligte können tatsächlich nur ahnen, welchen emotionalen Kraftakt der Abend den Darstellerinnen und Darstellern abverlangt. Manchen ist das Risiko zu groß, sodass sie nur anonym auftreten; zudem flankierte das Haus die Premiere am Freitag etwa auf Social Media mit Hinweisen, dass man den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine verurteile und die russischen Mitwirkenden selbst vor Putins Regime geflohen seien.

Der Graben zwischen beiden Völkern ist nicht nur deshalb in Gudmonaitės Inszenierung zu spüren. Es wäre wahlweise auch vermessen, arrogant, lächerlich oder einfach nur dumm zu glauben, die Kunst könne hier Pflaster sein. „Heal the World“ funktioniert eben nicht – und taugt maximal für ein paar pathetische Popsong-Minuten.

Was Kunst aber sehr wohl zu leisten vermag: Sie kann Menschen zum Zuhören bringen, kann Empathie lehren, und manchmal ist schon viel gewonnen, wenn Trennendes bewusst gemacht wird. Die Regisseurin, 1992 in Vilnius geboren, geht dafür vom Begriff „Xáta“ aus, der in ukrainischer wie in weißrussischer, polnischer und russischer Sprache so viel wie „Haus“ oder auch „Zuhause“ bedeutet. Also das, was jenen auf der Bühne fehlt, denn Heimatlose – im tatsächlichen wie übertragenen Sinn – sind sie alle.

Im ersten Teil kommen die ukrainischen Opfer des russischen Überfalls zu Wort: Auf einer Videoleinwand werden Interviews eingespielt, in denen sie ihre persönlichen Geschichten erzählen, wie sie den Angriff, die Kämpfe, die Russen erlebt haben. Wir sollten zuhören. Der ukrainische Chor auf der Bühne deutet das Erzählte zurückhaltend an – etwa wenn es um die Flucht über die grüne Grenze nach Polen geht, derweil Kampfjets über den Himmel donnern. Und er singt stimmgewaltig und dramaturgisch wunderbar gestaltet traditionelle ukrainische Volkslieder. Schließlich wagen Gudmonaitė und ihr Ensemble verhaltenen Optimismus zum Abschluss: Die Ukrainerinnen und Ukrainer schleppen Steine auf die Baustelle. Das jedoch ist genau das Gegenteil eines Abrisses.

Im zweiten Teil werden Gespräche mit Menschen projiziert, die Russland verlassen mussten. Es geht um Propaganda als Waffe und um die Tatsache, dass niemand den Russen gestattet habe, „von Freiheit auch nur zu träumen“. Auch hier: hinhören! Derweil exerzieren Ballerinas auf der Bühne ihre strengen Bewegungsabläufe. Die Übungen gipfeln in einem technisch perfekten, dennoch völlig entmenschlichten Puppenballett, bei dem jede austauschbar ist. Auch hier aber blitzt Hoffnung auf. Als Transmann Alex seine ganz persönliche Abrechnung mit Russland in einem wilden Tanz gipfeln lässt, sind selbst die dressierten Ballerinas nicht zu bändigen – und feiern viel mehr als nur ihre Bewegungsfreiheit.

Zum heftigen Schlussapplaus informiert ein Abspann über alle Mitwirkenden. Die Bühne selbst bleibt leer. Das ist sehr traurig. Und sehr nachvollziehbar.

Nächste Vorstellungen

am 22. und 23. Oktober; Telefon 089/233 966 00.

Artikel 6 von 11