Ehrgeiz auf der Zielgeraden

von Redaktion

Die Rolling Stones ziehen mit „Hackney Diamonds“ ein starkes Resümee

VON JOHANNES LÖHR

Die Rolling Stones haben in 18 Jahren alles gesagt. Die Musik, die sie von 1963 bis 1981 aufnahmen, hat die Popkultur definiert und, ja: vielleicht auch ein bisschen die Welt verändert. Großspurig, zärtlich, zugedröhnt, engelsgleich und wie vom Teufel geritten klingen diese Lieder. Kulturerbe mit herausgestreckter Zunge. Und heute? Was hat uns die größte Rockband der Welt noch zu sagen, wo wiederum 18 Jahre vergangen sind seit ihrem bislang letzten Album mit eigenen Songs („A bigger Bang“, 2005)? In dieser Zeitspanne werden junge Menschen erwachsen. Und alte nähern sich auf der Bühne ihres Lebens der letzten Verbeugung.

„Hackney Diamonds“ – benannt nach den Glassplittern auf den Straßen des früheren Londoner Armenviertels, aber vehementer beworben als die britische Königskrönung – ist also zwangsläufig ein Resümee. Denn auch wenn Mick Jagger (80) regelmäßig ins Fitnessstudio geht und Keith Richards (79) mutmaßlich in Drachenblut gebadet hat – mit sehr viel mehr neuer Musik rechnen selbst optimistischste Fans nicht.

Der Sänger und der Gitarrist wissen, was sich ihr Publikum wünscht, also bilden die zwölf Songs einen Querschnitt des bisherigen Schaffens ab: Das offen gestimmte Gitarrenriff („Angry“), die Brian-Jones-Gedächtnis-Slide-Gitarre („Dreamy Skies“) und die Gospel-Emphase mit starker Gastsängerin („Sweet Sounds of Heaven“ mit Lady Gaga) sorgen für heiteres Querverweise-Raten.

So ist „Hackney Diamonds“ natürlich das durchdesignte Produkt einer Multimillionenfirma. Aber eben nicht nur das. Denn die betagten Musiker haben schon lange nicht mehr mit so viel Energie und Aggressivität gespielt wie in diesen neuen Songs.

Mick Jagger hat sich seinen jugendlichen Gockel-Ton erhalten, Keith Richards spottet seiner Arthritis, Steve Jordan am Schlagzeug spielt härter als der 2021 verstorbene Charlie Watts, der den 66-Jährigen noch selbst als seinen Nachfolger auserkor. Und man muss schon lange zurückblicken, bis man einen ähnlich starken Stones-Song findet wie „Depending on you“. „I’m too young for dying and I’m too old to lose“, singt Jagger in dem Liebeslied. Zu jung zum Sterben und nichts mehr zu verlieren: Das klingt nicht nach Autopilot, sondern nach dem Ehrgeiz, es auf der Zielgeraden noch mal wissen zu wollen.

Es hätte ein Album über Wut werden sollen, verriet Jagger im Interview mit dem „Spiegel“. Letztlich habe er aber nur Songs verwendet, die von Beziehungen handeln. Dafür sind aber auch die noch ziemlich zornig. „Bite my Head off“ ist reiner Punkrock, Paul McCartney spielt darin den verzerrten Bass wie Lemmy von Motörhead – und es gehört zu den schönsten Momenten des Albums, als Jagger ihn anblafft: „Come on Paul! Let’s hear something!“ Bevor Ronnie Wood zu einen schön dreckigen Solo anhebt.

McCartney empfahl den Stones auch Produzent Andrew Watt (33), der „Hackney Diamonds“ nicht nur ein zeitgenössisches Klangbild verpasste (der massive Sound ist wie gemacht fürs Smartphone, im Wohnzimmer würde man sich mehr Dynamik wünschen), sondern auch als Co-Autor gelistet ist und vereinzelt Gitarre, Bass, Keyboards, Percussion oder den Background-Gesang übernimmt.

Überhaupt die Gaststars – auch hier fährt die Platte noch mal die geballte Pop-Geschichte auf: Neben Lady Gaga haut bei „Sweet Sounds of Heaven“ Stevie Wonder in die Tasten. „Live by the Sword“ hat Elton John am Klavier – und die Rolling Stones in alter Besetzung. Es ist einer von zwei Songs, die Charlie Watts noch eingespielt hat, und auch Ex-Bassist Bill Wyman tut mit.

Wer mit dem Schwert lebt, stirbt durch das Schwert (Jagger spuckt den Text mit maximaler Verachtung), das hat angesichts des kriegerischen Wahnsinns auf der Welt eine beunruhigend aktuelle Note. Wohl eher Zufall. Auffällig ist dagegen Jaggers Hang zur Rückschau: „Everywhere I’m looking are Memories of my Past“, singt der Star in „Whole wide World“ und gibt zu, dass auf seinem Weg doch viel zu Bruch gegangen ist: „Life’s just hit and run.“ Das Leben ist Fahrerflucht. In „Dreamy Skies“ wünscht er sich an einen entlegenen Ort ohne Instagram und E-Mails, nur mit einem alten Radio, das Hank Williams spielt. „Ich muss mich von all dem befreien!“ Die Platte endet mit der Essenz der Band, dem „Rolling Stone Blues“. Jenem Muddy-Waters-Song, nach dem sich die Jungs benannten, als sie im Londoner Glasscherbenviertel tatsächlich noch in unbeheizten Buden froren. Es ist ihre erste Liebe, ein Ringschluss, die Vollendung.

Was haben uns die Stones also heute noch zu sagen? Nichts Neues. Aber sie zeigen uns wohl zum letzten Mal, was in ihnen steckt: all das Herz, all das Tschingderassabum. Und die Momente der Wahrhaftigkeit.

The Rolling Stones:

„Hackney Diamonds“ (Universal).

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