„Jetzt erst recht“

von Redaktion

Das Jewish Chamber Orchestra Munich begrüßt im Prinzregententheater das Jahr 5784

VON MICHAEL SCHLEICHER

Das Jahr 5784 hat grauenhaft begonnen für die Menschen in Israel, für Juden in aller Welt. Die Terroristen von der Hamas haben Simchat Tora für ihren blutigen Angriff auf das Land ausgewählt, jenen hohen Festtag also, der ganz im Zeichen der Freude über die fünf Bücher Mose stehen sollte. Ein „besonders vulnerabler Moment“, wie Daniel Grossmann, Gründer und Dirigent des Jewish Chamber Orchestra Munich, am Mittwochabend im bis auf ein paar Plätze ausverkauften Prinzregententheater erklärt. Als die schrecklichen Bilder des Überfalls um die Welt gingen, war sein erster Gedanke natürlich, das jüdische Neujahrskonzert abzusagen. Verständlich. Es seien dann die beiden israelischen Kantoren gewesen, die ihn vom Gegenteil überzeugten, berichtet Grossmann: Chaim Gantz und Israel Nachman Turgeman wollten unbedingt in München auftreten – „sie wollen mit uns das Jahr 5784 feiern. Jetzt erst recht!“ Und ein Fest wurde dieses heftig bejubelte, am Ende mit Standing Ovations gefeierte Konzert – gleichwohl der Polizeischutz vor und im Theater daran erinnerte, dass die Zeiten eben andere sind.

Grossmann hat für die beiden Sänger und sein glänzend aufgelegtes Ensemble ein dramaturgisch überzeugendes Programm zusammengestellt aus Tradition und 20. Jahrhundert, durch das er im gewohnt charmanten Plauderton führte. Ein erster Höhepunkt, von Gantz sehr behutsam und doch mit Verve interpretiert, ist „Kol Nidrei“ nach dem Gebet, das zu Jom Kippur, dem Versöhnungstag, gesprochen wird. Beim anschließenden „Moses & Aharon“ vom 1955 geborenen Yossi Green lässt Turgeman seinen Tenor kräftig strahlen, derweil das Orchester in Klängen schwelgt, die mitunter an Kintopp erinnern und die Einflüsse der US-Musik auf die kantorale Musik deutlich machen. Wie gut Stimmen, Temperament sowie die Entertainer-Qualitäten von Gantz und Turgeman harmonieren, zeigt sich besonders bei „Hamavdil“ – die beiden sind eben nicht nur fabelhafte Sängern, sondern auch fantastische Geschichtenerzähler, die leben, was sie interpretieren.

Nach der Pause beeindruckt dann vor allem das Musik gewordene Streitgespräch zwischen Rabbinern, „Amar Rabi Eliazar“, von Moishe Oysher mit einem Off-Beat wie im Jazz und mit „Schalom“-Rufen im Wechsel zwischen Gantz und Orchester. Turgeman bringt eine weitere Tradition in den Abend und lässt das Jiddische in „Mamele“ perlen, bevor die beiden Kantoren zum großen Finale mit einem Lobpreis Jerusalems, der sich immer weiter steigert, das Publikum von den Sitzen reißen.

Übrigens: Das jüdische Jahr 5784 hat bereits Mitte September begonnen. Dass das Neujahrskonzert erst etwas mehr als vier Wochen später stattgefunden hat, liegt schlicht daran, dass nach Rosch ha-Schana eine Reihe hoher Feiertage im Judentum anstehen, die Kantoren also eh mächtig zu tun haben. Jetzt hatten sie Zeit – und waren prächtig eingesungen: L’Chaim – auf das Leben!

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