Ein Zeigefinger kann ja so viel mehr als ein Körperteil sein. Der an Robert Dölles rechter Hand ist bei der Premiere am Freitagabend im Residenztheater das vielleicht wichtigste Requisit des Schauspielers in seinem berührend-komischen Solo „Anne-Marie die Schönheit“. Nora Schlocker hat den Text von Yasmina Reza inszeniert; Dölle beeindruckt in der Titelrolle und wird zu Recht nach 80 intensiven Minuten vom Publikum gefeiert.
Vor allem mit seinem Zeigefinger dirigiert er den Abend, unterstreicht das Gesagte, deutet auf seine (eingebildete?) Gesprächspartnerin, fährt sich nachdenklich über die Wange, legt ihn grübelnd ans Kinn, spielt mit dem grauen Haar. Allein dadurch erzählt Dölle bereits einen Teil dieser Geschichte, die Selbstbefragung ist, Autosuggestion und PR in eigener Sache.
Reza, 1959 in Paris geboren, hat „Anne-Marie die Schönheit“ ihrem Lieblingsdarsteller André Marcon gewidmet und mit ihm vor drei Jahren auch die Uraufführung inszeniert. „Anne-Marie ist eine Frau, aber aus Gründen der Distanz und Allgemeingültigkeit wünsche ich, dass diese Figur von einem Mann interpretiert wird“, erklärte die Schriftstellerin damals.
Anne-Marie Mille war einst Schauspielerin, die es jedoch nie über Kleinst- und Kleinrollen hinausgebracht hat. Jetzt ist sie auf der Zielgeraden des Lebens, verwitwet, brutal genervt von ihrem Sohn und von den typischen Hilfsmitteln für Senioren: „Der Anblick von medizinischen Geräten macht mich ganz kirre. Er leitet das Ende ein.“ An diesem Punkt des Daseins blickt Anne-Marie auf ihre Karriere zurück – scheinbar in einem Interview, von dem allerdings bis zum Schluss nicht klar ist, ob es nur im Kopf der Protagonistin stattfindet. Es ist ein (innerer) Monolog über viel Hoffnung und noch mehr Frust, über Zorn und Zweifel, über Wut und Wehmut. Das ist sehr traurig und zugleich enorm witzig, weil unbedingt wahrhaftig.
Beide großen Münchner Sprechbühnen haben das vergangene Premierenwochenende genutzt, um über das Alter nachzudenken. Während die Kammerspiele in „Liebe (Amour)“ die Frage nach einem würdevollen Tod ins Zentrum stellen (Kritik siehe unten), fokussiert sich Schlocker in ihrer Arbeit auf eine persönliche Lebensbilanz. Lisa Käppler hat dazu vier Holzkonstruktionen vor den Eisernen Vorhang im Residenztheater gebaut, die an Anne-Maries Wohnung und Arbeitsstätte erinnern. Dölle wird im Lauf des Abends drei davon wenden, das Verborgene zum Saal hin drehen, ganz so, wie er das Leben der Figur aufblättert. Er interpretiert diese Frau mit großem Respekt und viel Empathie. Dabei glückt es ihm, die Zipperlein des Körpers ebenso zu zeigen, wie er weibliche Gestik und Mimik bis in die Spitzen seiner rot lackierten Finger übernimmt – ohne dabei je in Travestie abzugleiten. So zeichnet er behutsam das Porträt einer Nebenfigur, die endlich die Bühne für sich alleine hat: ein Mensch, der einfach nur gesehen werden will.
Nächste Vorstellungen
am 25., 30. Oktober sowie am 5., 10., 13. November; Telefon 089/21 85 19 140.