„Und deswegen: Tschüss“

von Redaktion

Waltraud Meier verabschiedet sich an der Berliner Staatsoper von der Bühne

Beschweren darf sie sich jetzt, an ihrem allerletzten Abend, nicht mehr. Keine Blumensträuße würden mehr geworfen, so hatte Waltraud Meier noch im Interview mit unserer Zeitung geklagt. Als sie in der Applausordnung dran ist, wie es sich als Klytämnestra gehört nach den Nebenpartien und vor der Hauptrolle, eilt sie wie immer forsch ins Bühnenzentrum. Da erhebt sich in der Berliner Staatsoper Unter den Linden keine Ovation, sondern ein Orkan. Längst stehen die 1400 Fans, viele haben die Handys gezückt, und nun fliegen die Blumen. Sträuße, Rosen, manche erreichen die Bühne nicht und landen im Orchestergraben. Ein Gebinde greift sie sich, dabei lösen sich die Rosenblätter, ein kleiner roter Schauer geht nieder.

Was in der 67-Jährigen bei ihrem Bühnenabschied vorgeht, man kann es nur ahnen. Das dankbare, immer leicht triumphierende Lächeln kennt man. Später, als sie sich das Mikro greift, zittert die Stimme etwas. Doch vorher sind die offiziellen Reden dran. Intendant Matthias Schulz hat sich etwas auf einem Zettel notiert. „Keine Übertreibung“, sagt er, „eine Jahrhundertsängerin geht in den Ruhestand.“

Herzlicher wird es bei Matthias Glander. Der Solo-Klarinettist der Staatskapelle Berlin pflegt offenbar ein freundschaftliches Verhältnis zu Waltraud Meier. Ihn hat sie um ein paar Worte gebeten. „Immer eine echte Kollegin“ sei sie gewesen, lobt Glander. „Du bist eine von uns.“ Um dann von 1992 zu erzählen, als er beim „Parsifal“ unter James Levine im Bayreuther Graben saß und oben die Meier ihre legendäre Kundry gab. Zu gern habe er sie mit seiner Klarinette umspielt. Und man weiß nicht: Meint er den Gesang oder die Frau? „Wenn ich Parsifal gewesen wäre, hätte ich nicht widerstehen können.“ Glander verirrt sich ein wenig in seinen Worten, es wird leicht lüstern – doch das passt zur Meier, die den Musiker innig umarmt und einen dicken Kuss auf den Mund drückt.

Auch andere Kolleginnen haben sich mit der Klytämnestra aus der Karriere verabschiedet, Christa Ludwig oder Leonie Rysanek zum Beispiel. Das hat wegen des männermordenden Muttermonsters aus Richard Strauss’ „Elektra“ immer einen Hautgout. Bei der Meier gerade nicht, so menschlich, so bemitleidenswert, so begründet in ihren Abgründen erlebt man diese Figur sonst nie. Zu verdanken hat sie das ihrem Lieblingsregisseur Patrice Chéreau. Anlässlich seines zehnten Todestags setzte die Linden-Oper eine letzte Serie seiner „Elektra“-Produktion an, die von Aix-en-Provence über Barcelona, New York, Mailand und Helsinki bis nach Berlin wanderte und nun abgespielt ist.

Eigentlich sollte Daniel Barenboim, bis kürzlich Generalmusikdirektor der Berliner Staatsoper, die Aufführungen und damit auch die Dernière der Meier dirigieren. Wegen seiner schweren Krankheit ging das nicht. „In jeder Sekunde“, so sagt die Meier in ihrer Rede, habe sie an ihren Lebensdirigenten gedacht. Dabei macht Markus Poschner seine Sache ganz ausgezeichnet. Erstaunlich viel Lyrisches entdeckt er in der Giga-Partitur, Feinheiten werden behutsam ausgebreitet, der Klang im Orchesteraufruhr dafür gebührend geschärft.

Mit Vida Miknevičiutė als herbe Chrysothemis, Lauri Vasar als jugendlich-viriler Orest und Ricarda Merbeth als Elektra, bei der die Konsonanten dramatischer klingen als die vokalen Linien, spendiert das Haus eine 1A-Besetzung. Wie von Chéreau einst gewollt, werden manche Mini-Partien mit in Ehren ergrauten und erweißten Stars bestückt, in Berlin sind es Roberta Alexander, Olaf Bär und Cheryl Studer. Alle stehen sie auf der Bühne und applaudieren herzlich, danach wird im Haus noch kräftig gefeiert – nachdem die Meier ein stummes „Jetzt ist aber Schluss“ Richtung jubelndes Publikum verfügt hat.

Logisch, dass sie sich als Einzige und Premierenbesetzung die Chéreau-Intensität bewahrt hat. Gesang und Spiel durchdringen und bedingen sich. Ein Theater der Blicke, der kleinen Gebärden und dann wieder raumgreifenden Gänge, mit bewusster Absichtslosigkeit ausgeführt. Die Meier ist in den 20 Klytämnestra-Minuten Mittelpunkt und reagiert doch in jeder Sekunde auf die Kolleginnen und Kollegen. Die Figur scheint sich spontan und schlüssig in diesem Aufführungsmoment zu verdichten – kaum sonst ist das zu erleben.

47 Karrierejahre, was für ein Weg. Von der Nebenrollen-Lola in einer Würzburger „Cavalleria rusticana“, im Rahmen ihres ersten Festengagements an ihrem Geburtsort also, bis zu den singulären Rollenporträts von Kundry, Isolde, Marie, Sieglinde, Ortrud oder Leonore. Nun müssen auch die Fans Abschied nehmen von der fränkischen Wahl-Münchnerin, in Berlin geschieht das so widerwillig wie lautstark. „Ich konnte mich ausdrücken in allem, was ich zeigen wollte, und ihr seid mitgegangen“, bedankt sich Waltraud Meier. „Aber jetzt habe ich alles ausgedrückt, ich habe musikalisch nichts mehr zu sagen.“ Das Publikum protestiert, es ist eine charmante Lüge. „Und deswegen: Tschüss.“

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