Raketenangriff auf Charkiw, drei Tote in Saporischschja: Die täglichen Nachrichten aus der Ukraine haben uns abstumpfen lassen. Wer verstehen will, was sich wirklich hinter den lapidaren Meldungen verbirgt, welches Leid, welche Schicksale, der sollte „Nimm meinen Schmerz – Geschichten aus dem Krieg“ von Katerina Gordeeva lesen. Die russische Journalistin (Foto: Olga Pavolga) verließ Moskau 2014 aus Protest gegen Russlands Annexion der Krim und lebt heute im Exil in Lettland. Doch für ihr Buch (und ihre Dokumentarfilme) reiste sie in ihre alte Heimat und traf dort Hinterbliebene von Soldaten sowie Deserteure, die eindringlich erzählen, wie unwissend sie in den Krieg geschickt wurden – und erst durch die Handy-Mitteilung über die Roaming-Gebühren verstanden, dass sie sich in der Ukraine befanden.
Aber am schmerzhaftesten – auch für die Autorin, die oft erst einmal von ihren Interviewpartnern als Russin angefeindet wird – sind die Gespräche mit den ins Exil nach Deutschland oder Polen verbannten Ukrainerinnen. Gordeeva lässt die Menschen einfach reden – und die oft bizarren Details der Realität lassen die Wirklichkeit zur Literatur gerinnen. Wie bei der belarussischen Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch klingt das, was die Menschen erzählen, in den besten Momenten poetischer, aber auch brutaler und schmerzhafter als alles, was sich ein Schriftsteller auszudenken vermag.
Da ist etwa die Geschichte vom russischen Soldaten, der die aus dem Grauen von Butscha fliehende Familie an einem Checkpoint kontrolliert – und zu der in panischer Angst zitternden Frau sagt: „Ziehen Sie sich eine Mütze über, Sie werden sich noch erkälten!“ Hinter dem scheinbar so besorgten Soldaten liegen zwei erschossene Kinder im Straßengraben.
In diesem Buch geht es um die Menschen, nicht um die große Politik. Es geht um den Horror des Krieges an sich – auf die Journalisten-Frage, wer die Rakete abgeschossen hat, lautet die Antwort: „Es spielt keine Rolle, wer schießt: Alle schießen. Und du bist der Hase, denn egal wer schießt – er schießt auf dich.“ Aber gerade durch die oft absurden Details, die bildhaften Albträume, die die Opfer verfolgen, wird das Buch politischer als es ein Kommentar je sein könnte. Denn Gordeeva, die in Zeiten der Meinungsfreiheit als eine der bedeutendsten Journalistinnen ihrer Heimat galt, lässt keinen Zweifel daran, wer all das Leid verursacht hat. Ihr Buch ist auch eine einzige Anklage gegen das Jahrhundertverbrechen Wladimir Putins, der Millionen von Lebensträumen, auch seiner Russen, sinnlos zerstört hat.
Katerina Gordeeva:
„Nimm meinen Schmerz“. Aus dem Russischen von Jennie Seitz. Droemer Knaur, München, 350 Seiten; 24 Euro.