Die vielen Straßen des Lebens

von Redaktion

NEUERSCHEINUNG Zurück im München der Siebziger: Uli Oesterle setzt „Vatermilch“ fort

VON MICHAEL SCHLEICHER

An irgendeinem Punkt auf der Straße des Lebens ist sich dieser Mann selbst abhandengekommen. Hat sich verloren – nicht nur im ausgelassen schillernden München der Siebzigerjahre, dessen heimlicher König er zu sein glaubte. Nein, der Satz gilt auch im übertragenen Sinn: Diesen Typen mit dem sprechenden Namen Rufus Himmelstoss gibt’s nicht mehr. Nicht für die Familie, nicht für die Behörden, nicht für die Gesellschaft. Es wirkt, als sei er tot – und deshalb lässt Uli Oesterle seinen neuen Comic-Roman „Vatermilch. Unter der Oberfläche“ konsequent auf dem Alten Nordfriedhof an der Arcisstraße beginnen, wo sich für zwei Verliebte das Tor zur Hölle zu öffnen scheint.

Es ist der zweite Band seiner auf vier Bücher angelegten Geschichte, die der 1966 in Karlsruhe geborene Künstler nun vorlegt. Zum Auftakt vor drei Jahren, in „Die Irrfahrten des Rufus Himmelstoss“, zog Oesterle sein Publikum virtuos hinein in den schier endlosen Rausch, in dem München Mitte der Siebziger Ringelpiez tanzte: Die Disco Yellow Submarine in Schwabing war der Laden, in dem damals das Leben pulsierte – und sein Protagonist heftig feierte. Dafür fand der Zeichner Bilder, die zeigten, wozu grafische Literatur in der Lage ist.

Doch dann bog Himmelstoss ein paar Mal falsch ab, verlor Familie und Job, gewann allerdings nichts dafür – nichts beim Spiel, nichts beim Saufen. Im Gegenteil. Er verursachte trunken einen furchtbaren Unfall, landete auf der Straße und sah nur einen Ausweg: in der Kälte der reißenden Isar.

Eine Option, an die der Gefallene auch im neuen Band gefährlich häufig denkt, obwohl Himmelstoss im Prolog auf dem Gottesacker noch trotzig grunzt: „Ich bin hier fertig.“ Oesterle folgt seiner Hauptfigur mit genauem Blick und großer Empathie. Der Untertitel des Werks gibt die Richtung vor. „Unter der Oberfläche“, dorthin also, wo München eben nicht leuchtet: in die Suppenküche von St. Bonifaz, nach Stadelheim, auf die Braunauer Brücke, ins Männerwohnheim an der Pilgersheimer Straße. Keine Orte mit Sex-Appeal gewiss, aber dennoch Orte, die zur Stadt gehören. Hier lebt Rufus Himmelstoss, hier kassiert er Prügel und lernt neue Menschen kennen, hier beginnt seine Suche nach „ein wenig Würde“ und nach einem „guten Schachzug“.

Bereits bei seinem Comic- Debüt, den fünf Kurzgeschichten, die er im Jahr 1999 unter dem Titel „Schläfenlappenphantasien“ als Buch herausgebracht hatte, bewies Oesterle sein Talent als Erzähler. Er kann sich auch hier darauf verlassen. Seinen Strich freilich hat er seit damals verfeinert, er arbeitet enorm geschickt mit Schattierungen, nutzt Licht und Gegenlicht als dramaturgische Elemente. Das macht dieses Buch zu einem grafischen Vergnügen. Verstärkt wird das durch das Gespür des Künstlers für die Aufteilung einer Seite in Panels, also in Einzelbilder, die den Rhythmus seiner Erzählung mal vorantreiben, mal runterbremsen.

Es ist kein Geheimnis, dass „Vatermilch“ das bislang persönlichste Projekt des Autors und Zeichners ist. Die Geschichte des Rufus Himmelstoss ist die Geschichte seines Vaters: „Die großen Lücken in seinem Lebenslauf verfugte ich mit Erdichtetem. Jedes einzelne Wort davon ist wahr“, erklärte Oesterle im ersten Band. Und auch im neuen Buch führt er eine zweite Erzählebene ein, die farblich geschickt abgegrenzt ist zum Schwarz-Weiß der Haupthandlung. Hier reflektiert er wohl auch das eigene Leben als Partner und Papa. Es sind Szenen, die mit am meisten berühren, weil sie sehr ehrlich etwas zutiefst Menschliches zeigen: die Zerrissenheit zwischen eigenen Bedürfnissen, denen des Kindes und jenen der Lebensgefährtin sowie die Überforderung, die Eltern eben auch spüren können.

Als der Bub im Comic seinen Vater fragt, warum er nicht um den verstorbenen Opa weine, dessen Asche sie gerade verstreut haben, antwortet der unwirsch: „Weil ich … wegen … Weil Männer nicht … Ach, halt doch einfach die Klappe!“ Uli Oesterle selbst hat sie nicht gehalten. Und das ist ein Glück.

Uli Oesterle:

„Vatermilch. Unter der Oberfläche“. Carlsen, Hamburg, 144 Seiten; 25 Euro.

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