Vor 500 Jahren sollen diese Menschen gelebt haben? Die sind doch quicklebendig! Wie sie uns da aus den güldenen Bilderrahmen entgegenblicken, die nun in der Alten Pinakothek hängen. Das Haus lädt zum Kurztrip nach Venedig. „Venezia 500 <<“ heißt der Titel der neuen Sonderausstellung. Die zwei Pfeile auf dem Plakat erinnern an die Rückspultaste auf dem CD-Player. Und genauso schnell wie man durch diese Taste in der Playlist zurückspringen kann, hüpft man mit dem Besuch dieser Schau in die Lagunenstadt des 16. Jahrhunderts. Kurator Andreas Schumacher, Sammlungsleiter für italienische Malerei, unternimmt mit uns eine Reise in eine Zeit, die der unseren erstaunlich ähnlich ist. Die große Seemacht Venedig wird schmerzlich an ihre eigene Verletzlichkeit erinnert: Seuchen wie die Pest, die in den Jahren 1503 und 1510 ausbricht, kriegerische Auseinandersetzungen, die sowohl die Vorherrschaft als Handelsmacht als auch die lebenswichtigen Festlandbesitzungen Venedigs infrage stellen, hinterlassen Spuren in der Gesellschaft.
Pandemie, Krieg – wie sich die Sorgen gleichen; und wie der Umgang der Menschen damit. Als heutiger Betrachter findet man sich wieder in den nach innen gekehrten Blicken der Porträtierten dieser Zeit. Sehr klar lässt sich an den 15 Meisterwerken aus dem eigenen Bestand der Bayerischen Staatsgemäldesammlungen und 70 internationalen Leihgaben, die in der Ausstellung zu sehen sind, nachvollziehen, wie sich die Porträtmalerei in der Lagunenstadt im 16. Jahrhundert revolutionär verändert. Weg von der steifen Frontalansicht, in der der äußere Schein, die Würde des Amtes, die gesellschaftliche Stellung im Vordergrund stehen, hin zu intimen Charakterstudien. Insbesondere die sogenannten lyrischen Bildnisse, die sich ab 1508 in Venedig entwickeln, sind voll Sinnlichkeit. Tizians „Bildnis eines jungen Mannes“ (um 1510/20) beispielsweise: Verträumt schaut der hübsche junge Kerl mit sehnsuchtsvollem Blick zur Seite, in ein fernes Arkadien? Der Wunsch nach Eskapismus in schwierigen Zeiten, das Sehnen nach Ruhe und Harmonie, spiegelt sich in seinen Augen.
Das Genie Giorgione (1478-1510) hatte die Entwicklung zu diesem neuen Porträttypus angestoßen. Er brachte Dynamik in die Menschenbilder. Bei ihm wenden sich die Protagonisten von der Leinwand den Betrachtern zu, häufig per Schulterblick. Wie spontane Momentaufnahmen wirken seine Bilder. Und wie viel Ausdruck in diesen Gesichtern steckt, wie viel Blut da durch die Wangen rauscht. Giorgiones „Knabe mit Pfeil“ (um 1505) etwa muss gar nicht in den Köcher greifen – seine Augen treffen mitten ins Herz.
Nur eins scheint zu fehlen in dieser wohltuenden Schau, die uns durch Klanginstallationen in den Räumen auch akustisch nach Italien zieht: Venedig ist nie zu sehen – und dann doch in jedem Bild gegenwärtig. Durch die ungeheure Farbvielfalt, das warme Licht, das die Serenissima so einzigartig macht. Und durch die besondere Intimität, die zwischen Auftraggebern der Porträts und den Malern unübersehbar besteht. In Venedig trafen sie einander regelmäßig, philosophierten miteinander, ließen sich von der Dichtkunst Petrarcas inspirieren und träumten gemeinsam von einer besseren, einer friedlicheren Welt. 500 Jahre später hat sich daran nicht viel geändert. Höchste Zeit, endlich einmal genauer hinzusehen.
Bis 4. Februar 2024
Di., Mi. 10-20, Do.-So. bis 18 Uhr; umfassendes Programm samt Konzerten in der Schau: www.pinakothek.de/de/venezia500