Eigentlich wollte sie an alledem nie wieder rühren, doch nun holt die Vergangenheit sie wieder ein. Eine einzige Hochsommerwoche, von Montag bis Sonntag, verändert alles in Ruth Lembers Leben. Eine besondere, ohnehin, denn Ruth wird in den Deutschen Ethikrat berufen. Aber dann taucht ein alter Freund wieder auf und mit ihm: Erinnerungen, Entbehrungen, Zweifel.
Der Gegenwartsliterat Ulrich Woelk hat diese Berliner Mittfünfziger-Philosophieprofessorin samt ihrer katastrophal sich zuspitzenden Woche erfunden. Er hat um sie herum eine komplizierte weibliche Lebensgeschichte mit so einigen verdrängten Sollbruchstellen konstruiert, nur um diese im Verlauf seines neuen Romans Pfeiler für Pfeiler zum Einsturz zu bringen – wie Ruth es vor mehr als 25 Jahren beim Protestanschlag auf einen Hochspannungsmast getan hat. Unerbittlich, fast unerträglich nüchtern inszeniert der Autor diesen spannungsreichen Einsturz einer Persönlichkeit. Die sonst so souveräne Frau, ausnahmsweise auch körperlich geschwächt durch einen zufälligen Hundebiss, verliert die Kontrolle, Puzzleteil für Puzzleteil, die Ereignisse scheinen unaufhaltsam, Vorahnungen bestätigen sich.
Dass Woelk seine Protagonistin ohne Wertung allein lässt, spiegelt interessanterweise die zentrale Fragestellung seines ungemein aktuellen Buches: In einer postpandemischen Zeit des Ukraine-Krieges und der Klimakleber verhandelt „Mittsommertage“ die hoch spannende Angelegenheit einer systemrelevanten Ethik. „Ist die Zukunft zu groß für die Ethik?“ Wer stört sich an Ruths längst verjährtem Aktionismus? Warum? Wer nicht? Und wo ist eine adäquate Antwort zu finden? Bei den Wortführern der Gegenwart? Oder bei den Gestaltern der Zukunft? „Unvermittelt hat Ruth den Gedanken, dass es vielleicht einer ganz neuen Art von Flaggen bedarf, um der Vielfalt von Identitäten gerecht zu werden (…). Vielleicht wäre ein Geträufel von Jackson Pollock der treffende Ausdruck für diese Pluralität: jeder Punkt ein Individuum.“ Vor allem wegen solcher Denkanstöße lohnt es sich, dem studierten Philosophen und Physiker Woelk durch die gewittrigen Ladungen seiner „Mittsommertage“ zu folgen.
Ulrich Woelk:
„Mittsommertage“. C. H.Beck, München, 285 Seiten; 25 Euro.