Ein Schneegestöber weht den Herrn mit Schlapphut hinein ins Hotelfoyer. Willkommene Abwechslung für die Dame in Rot, die gedenkt, mit einigen Flaschen Champagner allein „mit Silvester fertig zu werden“, und froh ist, wenn die knalligen Feierbiester abziehen. Hatte sie zunächst den Portier und Lohndiener vollgelabert, sind es nun der Mann und dessen Überseekoffer, die die Aufmerksamkeit rund eineinhalb Stunden beherrschen werden. Thomas Bernhards Stück „Minetti. Ein Porträt des Künstlers als alter Mann“ hatte am Samstagabend im Marstall des Bayerischen Staatsschauspiels Premiere.
Gewonnen werden konnte für die Inszenierung der Bernhard-Experte Claus Peymann (Jahrgang 1937), der 1976 den Fast-Monolog mit Bernhard Minetti in der Titelrolle uraufgeführt hatte. Wahrscheinlich freuen sich viele Münchnerinnen und Münchner mehr darüber, dass Manfred Zapatka (Jahrgang 1942) die Minetti-Figur spielt. Das bezeugte der sehr, sehr warme Applaus für Zapatka. Er blieb eben unvergessen als Star und Stütze im All-Star-Ensemble aus der Ära der Dieter-Dorn-Kammerspiele; die meisten Menschen werden den Schauspieler freilich aus dem Fernsehen kennen. Mit Achim Freyer (Jahrgang 1934) für Ausstattung und Lichtkonzept komplettiert ein dritter großer Theatermacher die Produktion.
Die alten Herren passen nicht nur gut zum Stücktitel, sondern vor allem zu der vogelwilden Hommage von Bernhard (1931-1989) an den realen Minetti (1905-1998), das Theater und die Schauspielkunst. Es ist wunderschön, rührend und unfassbar – schließlich war der österreichische Schriftsteller ein sensationeller Grantler und Beschimpfer –, dass Bernhard seine Liebe zu Schauspielerinnen und Schauspielern öffentlich und künstlerisch für die Ewigkeit bekannte; eben in „Minetti“ und „Ritter Dene Voss“. Kuschelkurs wird trotzdem nicht geboten.
So wird trotz der im Thomas-Bernhard-Stakkato hin und her schweifenden Suada des späten Hotelgastes nach und nach erkennbar: Er ist ein Verlorenen; eine Schauspielberühmtheit, die 30 Jahre nicht mehr auf einer Bühne stand, die dennoch täglich den „Lear“ memorierte, regelmäßig komplett spielte. Jetzt hofft Minetti, noch ein einziges Mal damit aufzutreten. Er sei mit dem Theaterdirektor von Flensburg in diesem Hotel verabredet. Manfred Zapatka vergegenwärtigt mit zart gewordenem, altem Körper und jung gebliebener Stimme das Flattern und Flackern, das Angeben und Posieren, das Bedrängen der Zuhörerinnen (präzise und wach: Barbara Melzl und Naffie Janha) und Innehalten im Aussichtslosen.
Bernhard formt diesen Minetti als einen „Lear 2.0.“, einen König des Theaters – er war ja Theaterdirektor –, der seine Macht mit Sturheit („…, der sich der klassischen Literatur verweigert hat.“) aufgegeben hatte, sich aussichtslos aufbäumte und sozusagen ins Exil ging. Der Wahnsinn jagt durch ihn wie die Weisheit, die Lust am Bonmot wie am fiesen Abkanzeln. Zapatka und Peymann haben dafür ein Changieren zwischen Rampensau-Gehabe und Kinderspiel-Naivität, zwischen Zartheit, die endlich mal die Egomanie zurück schiebt, und nüchternem Realitätssinn entwickelt.
Für den Auftritt dieses Minetti hat Freyer eine dunkle, leicht spiegelnde Hotellobby geschaffen, die peu à peu ins Surreale rutscht. Das passt zum viel zitierten James Ensor (1860-1949). Seine Malerei machte die Maske zu einem lebendig unlebendigen Wesensausdruck der Menschen und berührt darin die Theaterkunst. Ohne Maske wäre sie nie geboren worden. Auch für die Minetti-Figur ist ihr Lear nur mit Maske denkbar. Ensor selbst habe sie gemacht.
Thomas Bernhard verknüpft in dem Monolog nicht nur bildende Kunst und Theater; wichtig ist ihm stets die Verbindung zur Artistik (etwa „Der Schein trügt“); im Falle Minettis das Zaubern. Achim Freyer deutet das genial im Kostüm an: alles Schwarz in Schwarz, aber das Muster der Hose lässt großes Karo erahnen, und die Weste ist geblümt. Der Clown ist in der Tragödie versunken. Ähnlich wagt sich Freyer an die Ensor-Maske, die Minetti zum Sterben aufsetzt. Ein Gesicht zwischen Totenschädel und Munchs „Schrei“, eine Papierkrone und ein Zweig mit Glöckchen – König, Narr und Schmerzensmann. Ja, all die alten Männer fordern uns: wunderbar anstrengend und wunderbar bühnen-lustvoll.
Nächste Vorstellungen
am 18., 19. November sowie am 12., 13., 31. Dezember; Telefon 089/21 85 19 40.