Von der Kraft des Lebens

von Redaktion

Barbara Yelin erzählt in „Die Farbe der Erinnerung“ von Emmie Arbel

VON MICHAEL SCHLEICHER

Wir können nur erahnen, wie viele Fragen Barbara Yelin in den vergangenen drei Jahren Emmie Arbel gestellt hat, die als Kind der Shoah entkam. Es waren viele. Sehr viele. Eine dieser Fragen jedenfalls lautete: „Emmie, welche Farbe hat die Erinnerung?“ Und die Frau, die 1937 als Emma Kallus in Den Haag geboren wurde, antwortete: „Schwarz“. Auf jener Seite, auf der die Comic-Künstlerin davon berichtet, greift dann auch die Dunkelheit von unten nach oben um sich, breitet sich aus und droht, die alte Dame in der Bildmitte zu verschlingen.

Doch Yelin, Jahrgang 1977, hat gemeinsam mit Arbel das Verdrängte, das Schmerzhafte und Privateste ans Licht geholt und festgehalten in ihrer neuen Graphic Novel. Es ist keine Übertreibung festzustellen, dass „Emmie Arbel. Die Farbe der Erinnerung“ ein wichtiger Beitrag zur Historie des 20. Jahrhunderts ist – dessen Bedeutung nochmals steigt, wenn man bedenkt, dass es in naher Zukunft keine Zeitzeugen des nationalsozialistischen Massenmords an Europas Juden mehr geben wird.

Emma Kallus war viereinhalb Jahre alt, als die Deutschen sie aus ihrer niederländischen Heimat deportierten. Sie überlebte 15 Monate im KZ-Sammellager Westerbork, danach ein Jahr im KZ Ravensbrück. Die Befreiung erlebte sie 1945 im KZ Bergen-Belsen – für ihre Mutter kam diese zu spät: Kurz nach dem Eintreffen der Briten starb sie an Hunger und Krankheit. Ihre Tochter verbrachte die Zeit bis 1950 in vier verschiedenen Ländern, in Fürsorge-Einrichtungen und einer Pflegefamilie. Was sich wie eine Rettung liest, war der Beginn neuer Qualen: Das an Tuberkulose erkrankte Kind wurde vom Pflegevater vergewaltigt; dieser Horror währte ein Jahr.

Arbel, die heute unweit von Haifa lebt, hat Yelin ihre Geschichte erzählt. Auszüge daraus erschienen im vergangenen Jahr im Sammelband „Aber ich lebe“ bei C. H. Beck. Nun blickt die Künstlerin noch intensiver auf diese Biografie, die natürlich nie vollständig zu fassen sein wird. Ihr Werk, schreibt die Münchnerin im Nachwort, sei „nicht fertig, und doch muss es jetzt fertig sein. Emmie sagt, dass das Buch nun beendet werden muss, denn es geht über ihre Kraft. Es belastet sie. Und auch meine Kraft ist ausgeschöpft.“

Wer sich mit Barbara Yelins Schaffen auseinandersetzt, weiß, dass sie einen solchen Satz nicht leichtfertig formuliert. Sie hat früh das Potenzial des Mediums Comic als künstlerische Darstellungsform für Zeitgeschichte erkannt und mit Werken wie „Irmina“ (2014), „Vor allem eins: Dir selbst sei treu“ (2016) oder „Jan Bazuin. Tagebuch eines Zwangsarbeiters“ (2022) ausgelotet, was erzählbar ist und illustriert werden kann. „Emmie Arbel. Die Farbe der Erinnerung“ ist mit Sicherheit ihre bislang subjektivste Arbeit. Immer wieder zeichnet sie sich selbst in dieser Geschichte, zeigt sich gemeinsam mit ihrer Protagonistin. Dadurch erreicht Yelin bei ihren Leserinnen und Lesern zweierlei: Sie sorgt für Transparenz sowie für Nachvollziehbarkeit der Methodik und dokumentiert zugleich ihre Empathie für die Gesprächspartnerin. Ein umfangreiches Glossar, Karten sowie eine historische Einordnung runden dieses Buch ab, das im Rahmen des internationalen Projekts „Visual Storytelling and Graphic Art in Genocide & Human Rights Education“ der Universität Victoria in Kanada entstanden ist.

Bei aller Zeitzeugenschaft darf allerdings nicht übersehen werden, dass dieser Band auch künstlerisch überzeugt; das ist keine Nebensache. Yelin hat ihre Mischtechnik aus Wasserfarben, farbigen Tinten sowie wasservermalbaren Buntstiften weiter verfeinert. Das Fließen der Farben nutzt sie, um Gefühle zu illustrieren, um das kaum Sagbare zu vermitteln. Dramaturgisch geschickt spielt sie dabei mit der Aufteilung der Seiten in Panels, also in Einzelbilder. So arbeitet sie auch immer wieder heraus, was Emmie Arbel besonders wichtig ist. „Ich mag das Wort ,Überlebende‘ nicht“, betont sie an einer Stelle. „Ich mag es nicht, wenn man mich bemitleidet oder denkt, ich sei schwach. Ich weiß, dass ich stark bin.“ Und so erzählt dieses bemerkenswerte Buch eben auch von Hoffnung. Allem zum Trotz.

Barbara Yelin:

„Emmie Arbel. Die Farbe der Erinnerung“. Reprodukt,

Berlin, 192 Seiten; 29 Euro.

Lesung: Barbara Yelin stellt ihr Buch am 17. November, 18.30 Uhr, im Münchner Literaturhaus vor; Karten unter 0761/888 499 99 oder unter: literaturhaus-muenchen. reservix.de

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