„Drama ist überall“

von Redaktion

PORTRÄT Raphaël Pichon, neuer Star der Alten Musik, debütiert bei den Philharmonikern

VON MARKUS THIEL

Einfach Werke hintereinander wegspielen, womöglich noch ohne Zusammenhang – das können sie alle, es ist der Normalfall. Gerade deshalb sticht Raphaël Pichon heraus. Der ehemalige Countertenor und Chef des Alte-Musik-Ensembles Pygmalion schraubt gern Einzelteile zu einem aufregenden Konzert-Hybrid zusammen. Und das ohne Dramaturgen-Dampf, ohne Theorieballast, einfach aus klugen, sofort nachvollziehbaren Überlegungen.

Ein Konzeptkünstler also? Der 39-Jährige weist das Wort zurück. „Solche Programme sind keine Frage des Konzepts, sondern der Verantwortung“, sagt der Franzose. „Wir brauchen neue Wege und neue Perspektiven. Mich leitet die Frage: Wie können wir unser Repertoire quasi neu erfinden, um seine einmalige Botschaft für uns sprechen zu lassen?“

Auch für sein Debüt bei den Münchner Philharmonikern hat Pichon eine solche Neuerfindung gebastelt. Aus Mozarts c-Moll-Messe und Schuberts h-Moll-Symphonie, beide unvollendet, dazu Mozarts „Miserere mei“, eine Bearbeitung seines Kyrie KV 90, das eine einsame Existenz ohne folgende Messteile führt, plus Mozarts „Maurerische Trauermusik“ in einer Fassung für Männerchor und Schuberts „Lacrimosa son io“: Ein solches oratorisches Programm, eindreiviertel Stunden ohne Pause, ward in München seit gefühlten Jahrzehnten nicht gehört. Die Aufführungen sind am Freitag und Samstag in der Isarphilharmonie.

Was im Schauspiel und, viel seltener, im Musiktheater Praxis ist, das Aufbrechen von Strukturen nämlich, wendet Pichon im Konzert an. „Es ist höchste Zeit, die Aussagen der Komponisten für uns immer wieder neu zu entdecken.“ Mozarts unvollendete c-Moll-Messe hat er vor zwei Jahren schon einmal angereichert, an ihrem Salzburger Uraufführungsort anlässlich der dortigen Festspiele, und zwar mit Werken von Schubert und Bruckner. Plötzlich wurde hör- und erfahrbar, welche Entwicklungs- und Kraftlinien es gibt in der (nicht nur österreichischen) Oratorienliteratur. Eine verblüffende, klingende Vorlesung war das.

Pichon, gebürtiger Pariser, sang im Kinderchor von Versailles, studierte Violine, Klavier, Chor- und Orchesterleitung und begann seine Karriere als Countertenor. 2006 gründete er Chor und Orchester von Pygmalion. „Es gab nie den Entschluss: Ich will Dirigent werden“, sagt Pichon. „Ich wollte einfach diese aufregende Reise fortsetzen, die ich im Knabenchor beginnen durfte. Ich wollte mein eigenes musikalisches Abenteuer starten, seitdem ich 15 oder 16 war.“

Gerade weil sich Studierende zusammenfanden, mussten sie sich nicht gleich auf dem umkämpften Musikmarkt beweisen. „Es gab keine Erfolgsdruck, wir hatten Freude daran, etwas komplett Neues zu erfinden.“ Mittlerweile sind Pichon und Pygmalion oben angekommen. Ihre Einspielungen von Bachs Matthäus-Passion oder, ganz aktuell, von Monteverdis Marienvesper, haben Referenzcharakter. Und die Pariser Philharmonie etwa gewährte freie Konzeptbahn für ein mehrere Abende umfassendes Bach-Projekt: Aus den Passionen und Kantaten stellte Pichon das Programm „Zeit und Ewigkeit“ zusammen. Vom Klang her bewegt sich Pygmalion weg vom polierten bis veganen Ideal anderer Alte-Musik-Ensembles. Chor und Orchester gestalten farbsatt und offensiv – am ehesten erinnert dieser Stil an John Eliot Gardiner. „Nicht nur bei Bach gibt es keine Note, keinen Takt, der nicht Drama ist“, begründet dies Pichon. „Auch jedes Stück von Mozart ist Theater. Drama ist überall.“

Immer häufiger gastiert er auch bei den etablierten Orchestern. Bei den jüngsten Salzburger Festspielen durfte er für Mozarts „Le nozze di Figaro“ ans Pult der Wiener Philharmoniker. Und auch die Münchner Philharmoniker und ihr Chor sind neugierig geworden auf diesen Musikdenker. Wer die Bach-Aufnahmen von Pygmalion hört, ist ein wenig überrascht davon, wie glasklar hier ein französischer Chor Deutsch singt. „Ich verstehe Deutsch ganz gut“, sagt Pichon nun nicht mehr auf Englisch. „Ich kann es lesen, aber nicht so gut sprechen – ein Desaster.“ Er habe sich (und das von einem Franzosen!) sogar ins Deutsche verliebt. „Italienisch klingt natürlich, irgendwie großzügig, das Deutsche dagegen hat manchmal diese besondere Explosionskraft, diese Energie und einen faszinierenden rhythmischen Aspekt.“

Konzerte

am 10. und 11. November

in der Isarphilharmonie; Karten unter www.mphil.de.

Das Aufbrechen von Strukturen – auf der Bühne längst üblich

In die deutsche Sprache hat er sich verliebt

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