Gleichnis vom toten Bruder

von Redaktion

NEUERSCHEINUNG Peter Handkes „Die Ballade des letzten Gastes“

VON ANDREAS PUFF-TROJAN

Peter Handkes neues Buch trägt den Titel „Die Ballade des letzten Gastes“. Eine Ballade ist eigentlich ein erzählendes Gedicht – im Fall Handkes ein Prosatext über Leben und Tod. Handke erzählt, und das Erzählte hat oftmals lyrisch nachdenkliche Züge: Gregor kehrt wie jedes Jahr für eine Woche zurück in die Heimat. Der Weg ist weit, er lebt auf einem „anderen Kontinent, sprich: Erdteil“. Die Heimat hat sich gewandelt. Die Dörfer der Umgebung sind zu einer größeren Stadt zusammengewachsen. Handke nennt es oftmals „Agglomeration“.

Man könnte also von einem Ballungsraum sprechen, besser noch von einem ländlich-urbanen Verdichtungsraum. Zwar gibt es hier Hochhäuser, Straßenbahnen, Restaurants, Cafés, Kinos – doch es gibt auch noch Bauerngehöfte. In einem solchen wurde Gregor geboren, hier leben seine Eltern und seine Schwester Sophie. Und diese Schwester hat vor Kurzem ein Kind zur Welt gebracht. Gregor soll nun Taufpate sein.

Er ist einerseits seiner Heimat entwachsen, er ist Geologe. Andererseits zieht es ihn immer wieder dorthin zurück. In gewisser Weise ist er zum Gast in der Heimat geworden. Diesmal aber bringt er nicht Geschenke mit, sondern eine sehr bittere Nachricht: Der jüngere Bruder Hans, den es ebenfalls in die Ferne zog, ging zur Fremdenlegion. Angeblich hat ihm im Einsatz eine verirrte Kugel getroffen, er ist tot. Außer Gregor weiß niemand in der Familie von dem schrecklichen Ereignis. Er bringt Kunde vom „letzten Gast“, von seinem Bruder, der nicht mehr anwesend sein kann, wenn das Kind der Schwester getauft wird. Somit ist Gregor Mittelpunkt einer Ballade, die von Tod, aber auch von neuem Leben erzählt: Das eine Familienmitglied ist gestorben, ein anderes hat gerade seine Erden-Existenz begonnen.

Mit der Geschwisterkonstellation Gregor, Hans und Sophie kehrt das Personal aus Handkes dramatischen Gedicht „Über die Dörfer“ von 1981 zurück. Nur ist eben viel Zeit vergangen. Handkes Held kann die Gedanken an den toten Bruder nicht loswerden. Zuerst irrt er durch den Wald, dann zieht es ihn in die Stadt, in die Wirtshäuser. Dort ist er der stille Gast. Euphorisch fantasiert er: „Ja, Wirt sein, Bewirten als Beruf: Dienstbarkeit der Dienstbarkeiten! Und was für eine – Umsicht doch nötig war dafür, ein guter Wirt, der gute Wirt zu sein.“

Wer Handkes Text liest, merkt alsbald, dass der „gute Wirt“ parallel läuft zum „guten Hirten“, also zu Jesus Christus. Und sehr oft geht es dabei um Gastfreundschaft. Dahinter verbirgt sich das biblische Gleichnis von der Heimkehr des verlorenen Sohns. Nur: Der eine verlorene Sohn wird, kann nicht mehr heimkehren, während Gregor Jahr für Jahr auf kurze Zeit nach Hause kommt. Gegen Ende des Textes teilt er der Schwester mit, dass der Bruder tot sei. „Es war ein Weinen, von dem er wusste, es würde, auch wenn es jetzt aufhörte, nie mehr aufhören“.

Mit der Prosa-Arbeit „Die Ballade des letzten Gastes“ ist Peter Handke auf der Höhe seines erzählerischen Könnens. Es sind Sätze voller Poesie, die einem Gregor als irdischen Gast näherbringen. Seine Fremdhaftigkeit in der Heimat, ohne die er nicht leben kann, seine Trauer um den toten Bruder, den er oft missverstanden hat, und sein Glaube an die göttliche Transzendenz, die an keiner Stelle ins Kitschige oder Banale abdriftet, machen Gregor zu einem literarischen Helden der Gegenwart. Freilich hält Handke wie stets nicht viel von Zeitgeistigem. Seine Ballade steht fest in der Jetztzeit. Sie beschreibt Momente des Lebens, die dem flüchtigen Dasein ein existenzielles Fundament abringen.

Peter Handke:

„Die Ballade des letzten Gastes“. Suhrkamp, Berlin, 185 Seiten; 24 Euro.

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