Heute vor 85 Jahren organisierten die Nationalsozialisten landesweit Pogrome gegen jüdische Menschen, ihre Geschäfte und Synagogen. Wie erinnert man an diese Verbrechen, wenn es einmal keine Zeitzeugen mehr geben wird? Darüber sprachen wir mit Mirjam Zadoff, Direktorin des NS-Dokuzentrums in München, die soeben ein Buch über „globale Erinnerung im 21. Jahrhundert“ (siehe Kritik links) vorgelegt hat.
Was können Gedenktage wie der 9. November im besten Fall für eine Gesellschaft bedeuten?
Der 9. November ist ein Datum mit vielen Überlagerungen: 1918, 1938, 1989. Im Jahr 1988 wurde zum ersten Mal im Bundestag an die Reichspogromnacht gedacht. Solche Tage sind extrem wichtig als Symbol und als zeitliche Monumente – gerade, wenn sich Menschen mit Erinnerung schwertun. Und in Anbetracht der jetzigen Situation, nach dem Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober, ist die Erinnerung an den 9. November 1938 natürlich von besonderer und aktueller Bedeutung.
Erinnern kann aber auch zum Ritual erstarren.
Das ist die Gefahr, ja. Es hängt sehr davon ab, wie man solche Tage füllt. Losgelöst von diesen zeitlichen Einschnitten ist es wichtig, dass Lern- und Gedenkorte wie das NS-Dokuzentrum finanziert werden und unabhängig arbeiten können. Eigentlich ist dieses Bewusstsein in Deutschland vorhanden. Aber es gehört auch die Klarheit in politischen Äußerungen dazu. Aktuell flirten Teile der Politik permanent mit rechtem Gedankengut – das hilft nicht. Da kann Gedenken schnell zur Feigenblattrhetorik verkommen.
Wenn Sie mit Betroffenen sprechen: Was bedeutet der 9. November für diese Menschen?
Dieses Jahr hat der 9. November eine neue Bedeutung erhalten durch den 7. Oktober. Erst seit Kurzem ist das ganze Ausmaß dieses Ereignisses bekannt, das man in seiner Grausamkeit nicht anders bezeichnen kann als ein Pogrom. Hinzu kommt die Sorge um die Geiseln, vor allem die Kinder und Pflegebedürftigen, und der massive Anstieg von Antisemitismus in Europa und der ganzen Welt. Was durch den Krieg überlagert wurde, ist, dass antisemitische Übergriffe von rechts auch im Zug der jüngsten Wahlen zugenommen haben. Da passieren gerade vielfältige Re-Traumatisierungen.
Wie wird sich Gedenken ändern, wenn es keine Zeitzeugen mehr gibt?
Mit dieser Frage beschäftigen wir uns schon lange. Ich sehe die reale Gefahr, dass in einigen Jahren aus einer revisionistischen, einer rechten Geschichtspolitik heraus die These formuliert werden könnte, das habe ja alles nicht stattgefunden – weil es keine Menschen mehr gibt, die die Verbrechen der Nazis bezeugen können.
Gibt es weitere Aspekte, die für die Erinnerungsarbeit wichtig sind?
Die Zeitzeugen sind gerade für Jüngere das Bindeglied zu einer Zeit, die sie nicht kennen. Diese Menschen sind da, sind präsent und ansprechbar. Max Mannheimer, Ernst Grube oder Charlotte Knobloch sind immer wieder in Schulen gegangen, und tun es zum Teil bis heute, hochbetagt. Sie setzen sich dabei immer wieder ihren Traumata aus – um uns Nachgeborenen eine bessere Welt zu hinterlassen. Das ist ein Geschenk und eine unglaubliche Leistung.
Wer kann die Lücke füllen, wenn alle Zeitzeugen gestorben sind?
Das sind große Lücken, die zu füllen sein werden. Denken Sie auch daran, dass sich Zeitzeugen als eine Art moralische Instanz in aktuellen Debatten wie zur Migration, zur Flugblatt-Affäre oder zur AfD geäußert haben. Das wird schwer zu ersetzen sein. Ich sehe hier nicht zuletzt die Politik in der Verantwortung, wirklich klar Haltung zu beziehen. Das ist jedoch auch deshalb schwierig zu ersetzen, weil Zeitzeugen immer über die Befindlichkeiten der eigenen Gruppe hinausgeblickt haben – politisch hält man sich dagegen oft am eigenen Rahmen fest.
Sie versuchen hier im Haus, die Unmittelbarkeit der Zeitzeugen auch über die Kunst zu erreichen.
Ja, obwohl uns bewusst ist, dass das eine andere Art von Zugang ist. Aber nehmen wir jemanden wie Zuzanna Hertzberg (die Künstlerin, Jahrgang 1981, stellt derzeit im NS-Dokuzentrum aus; Anm. d. Red.): Sie bringt eine enorme Widerständigkeit ins Gedenken.
Inwiefern?
Sie sieht sich als eine Art „Memory Activist“ und damit in der unmittelbaren Wirkung ihrer Kunst der ersten Generation der Zeitzeugen verwandt. Hier setzt sich der Kampf für die Erinnerung, für eine empathische Art des Gedenkens fort – das kann künstlerisch sein, aber auch literarisch oder in der kuratorischen Arbeit.
Wenn Sie Kunst zeigen – schauen Sie dann eher auf den Inhalt oder auf die künstlerische Qualität?
Unbedingt auf beides! Als ich in München angefangen habe, hörte ich häufig den Satz: „Das ist ja toll, was ihr hier für die Schulen macht.“ Nein, wir machen ein Programm für alle – und über die Kunst können wir Leute ansprechen, die sonst vielleicht nicht kommen. Wir haben auf der einen Seite die sehr auf Fakten basierende Dauerausstellung, die eine Grundlage ist für den Diskurs. Auf der anderen Seite haben wir die Kunst, die darauf reagiert – und das Publikum ästhetisch, vielleicht auch emotional anspricht. In der Dauerausstellung versuchen wir, sehr objektiv zu sein – die Kunst ist radikal subjektiv. Diese Kombination bringt Offenheit ins Haus, und die Erfahrung zeigt, dass dieser Weg funktioniert.
Was ist das „Nie wieder“, das an Gedenktagen gerne beschworen wird, wert, wenn man erlebt, wie zurückhaltend vielerorts die Solidarität mit Israel nach dem Terrorangriff der Hamas erklärt wird?
Politisch gibt es in Deutschland eine sehr klare Unterstützung für Israel…
Meine Frage zielt auf die Gesellschaft, bei der ich diesen Eindruck nicht unbedingt habe.
Nicht nur in der Kunstszene, sondern in vielen Bereichen tun sich in der Tat derzeit Gräben auf und tritt Antisemitismus, aber auch Islamophobie zutage. Dass der Krieg jetzt – ähnlich wie der Krieg in der Ukraine – in Deutschland politisch instrumentalisiert wird, um die Gesellschaft zu spalten, finde ich extrem gefährlich. Ich würde mir auch wünschen, dass man den Stimmen aus der Region mehr Gehör schenkt. Manchmal habe ich den Eindruck: Die meisten Menschen sitzen lieber zu Hause und lösen das Problem vom Sofa aus am Handy.
Kann das NS-Dokuzentrum hier aufklären?
Antisemitismus- und Rassismusprävention gehört zu den Hauptaufgaben unserer Arbeit. Dem werden wir uns jetzt natürlich verstärkt widmen sowie dem Thema der Re-Traumatisierung der zweiten und dritten Generation der Holocaust-Überlebenden in Deutschland. Und nicht zuletzt der Frage, wie lebt man trotz der Gewalt wieder zusammen: im Land, aber auch in der jüdischen und palästinensischen Diaspora? Das ist unsere Expertise.
Ich frage auch deshalb, weil Ihr Haus beim russischen Angriff auf die Ukraine sehr früh mit Angeboten präsent war.
Das war eine bewusste Entscheidung, nicht zuletzt, weil Putin sich auf den Zweiten Weltkrieg bezog und als Kriegsgrund den Kampf gegen die „Nazis“ in der Ukraine angab. Russland und die Ukraine waren bereits vor dem Krieg wichtige historische Bezugspunkte für uns. Natürlich trifft das auch auf Israel zu. Ehrlich gesagt ist dort die Wunde momentan noch zu frisch, das Trauma der Gewalt. Aber wir werden auch in diesem Fall darüber nachdenken, wie wir uns in die Debatte einbringen können. Denn ganz sicher braucht es geschützte Räume, in denen man miteinander ins Gespräch kommt.
Das Gespräch führte Michael Schleicher.