Unter einem Dach

von Redaktion

Die Jüdische Gemeinde erinnert an Pogromnacht und Grundsteinlegung

VON MICHAEL SCHLEICHER

Das Zelt Jakobs überspannt einen großen Raum, und deshalb ist darunter Platz für unterschiedliche Gefühle: Trauer, Sorge, Unsicherheit, auch Verzweiflung und Wut – doch ebenso Hoffnung und Freude. All diesen Emotionen gibt Münchens Hauptsynagoge „Ohel Jakob“ am Donnerstagabend eine Heimstatt.

Die Israelitische Kultusgemeinde München und Oberbayern hat zum Gedenk- und Festakt geladen: zur Erinnerung an den 9. November 1938, jene Pogromnacht, die „das Tor nach Auschwitz aufgestoßen“ habe, wie Präsidentin Charlotte Knobloch sagt. Zugleich wird hier aber auch die Grundsteinlegung für Gotteshaus sowie Jüdisches Zentrum vor 20 Jahren gefeiert. Eine „Gedenk- und Zukunftsveranstaltung“ also, wie es Bayerns einstiger Ministerpräsident Edmund Stoiber zusammenfasst.

In der Tat ist es ein besonderer Abend. Als sich die Ehrengäste vor Beginn im obersten Stock des Gemeindehauses einfinden, können sie beim Blick aus dem Fenster Richtung Marienplatz und Rathaus sehen, was in allen Reden anklingen wird: Mit der Eröffnung des Zentrums am St.-Jakobs-Platz 2006 ist die Jüdische Gemeinde tatsächlich ins Herz der Stadt zurückgekehrt – dorthin also, von wo sie spätestens 1938 vertrieben wurde.

Doch wie dünn die Decke der Zivilisation noch heute ist – auch das macht dieser Abend eindrücklich bewusst. Der Terrorangriff der Hamas auf Israel, die Ermordung von mehr als 1400 Menschen, die Geiselnahme von mehr als 200 weiteren sowie in der Folge das weltweite Hervorbrechen des Antisemitismus entsetzen Gemeinde und Gäste.

Wegen der Attacke wurde kurzfristig eine Videobotschaft des Politologen Arye Sharuz Shalicar, Sprecher der israelischen Armee, ins Programm genommen; außerdem erinnert Generalkonsulin Talya Lador-Fresher an ihre Heimat und schlägt den Bogen in die Vergangenheit: „Die Hamas verfolgt dieselben Ziele wie das NS-Regime: die Vernichtung aller Juden.“

Alle Rednerinnen und Redner beziehen sich auf dieses neuerliche Pogrom. Markus Söder wird gar von Applaus unterbrochen, als er beginnt: „An einem solchen Tag sollte die erste Forderung sein: Lasst endlich die Geiseln frei, lasst sie zu ihren Familien zurück.“ Bayerns Ministerpräsident trifft in der Folge den richtigen Ton; engagiert, empathisch und sehr klar, wenn’s ums Schutzversprechen der Politik geht. „Jeder Angriff auf das jüdische Leben – und damit ist nicht nur der physische Angriff gemeint – ist ein Angriff auf das Leben aller.“

Entschlossen tritt auch Münchens Oberbürgermeister Dieter Reiter auf, der in eindringlichen Worten die „zynische Umkehr von Tätern und Opfern“ in den Debatten seit dem 7. Oktober als das entlarvt, was sie sind: die Rechtfertigung des „grausamen Mords an Unschuldigen“. Alle Ansprachen verknüpfen das Gedenken jedoch stets mit der Freude über die Rückkehr des jüdischen Lebens in Münchens Mitte. Besonders schön glückt dies Ilse Aigner. Die Landtagspräsidentin nennt die Hauptsynagoge ein „Ausrufezeichen nach den vielen Fragezeichen“ in der Nachkriegszeit.

Mehr als 450 Menschen sind an diesem Abend unter Jakobs Zeltdach versammelt, aus allen Bereichen des Lebens. Barbara Mundel, Intendantin der Kammerspiele, ist ebenso gekommen wie Andreas Beck, Chef des Staatsschauspiels, der dafür auf die Premiere im eigenen Haus verzichtet (siehe Seite 20), sowie Christian Stückl, der sich mit dem „Tag der Quellen“ an seinem Volkstheater seit vielen Jahren in der Erinnerungsarbeit engagiert.

Natürlich ist auch Rena Wandel-Hoefer da, deren „grandioser Entwurf“ (Knobloch) von 2003 bis 2006 Realität wurde. Reiter nennt das einen „Traum, der nach den Verheerungen der NS-Zeit an ein Wunder grenzt“. Im Gespräch mit unserer Zeitung sagt die Architektin: „Es erfüllt mich mit Dankbarkeit zu sehen, wie sich das Jüdische Zentrum zu einem vitalen Ort der Begegnung in und für München entwickelt hat.“ Als Planerin könne man „nur eine Hülle errichten, die im besten Fall dauerhaft funktioniert und auch nach längerer Zeit noch als ästhetisch wohltuend empfunden wird – ihr sinnhaftes Leben zu geben, ist nur ihren Bauherren und Nutzern möglich“. Für sie sei es ein „Geschenk“, verrät Wandel-Hoefer, dass sie mithelfen konnte, dass am St.-Jakobs-Platz ein Zentrum entstehen konnte, das „nicht nur die Gemeinde selbst, sondern auch die Stadtgesellschaft bereichert“.

Wie richtig die Saarbrückerin damit liegt, erleben die Gäste schließlich nicht zuletzt bei den vielen guten Gesprächen nach dem offiziellen Teil. Und als dieser besondere Abend gegen Mitternacht seinem Ende entgegengeht und allmählich Ruhe einkehrt im Jüdischen Zentrum, da strahlt „Ohel Jakob“ umso heller in den kalten Münchner Nachthimmel. Unverrückbar.

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