Suche nach Sicherheit

von Redaktion

NEUERSCHEINUNG Lukas Bärfuss erzählt in „Die Krume Brot“ von einer Alleinerziehenden

VON SIMONE DATTENBERGER

„Wenn sie jetzt an dieses Bett ginge, wenn sie ihre Tochter wecken und umarmen würde, wie würde es weitergehen? Woher das Geld, woher die Krume Brot? Und Adelina konnte sich vorstellen, welcher Mühsal und Sorge sie ausgeliefert wäre an jedem Tag der Woche.“ Für den neuen Roman von Lukas Bärfuss, Jahrgang 1971, wurde jener alte, fast ehrwürdige Begriff für ein Stückchen Nahrung (man denkt auch an „Erdkrume“) als Titel gewählt: „Die Krume Brot“. Mit dem heute ungebräuchlichen Wort begibt sich der Schweizer Dichter auf die Ebene von „Unser tägliches Brot gib uns heute“ des Vaterunsers. Es geht um existenzielle Absicherung, die keinen Luxus möchte, die lediglich das andauernde verzweifelte Ringen ums Überleben überflüssig macht.

Wenn sich Bärfuss’ Adelina auf der letzten Seite des Buches vor die Entscheidung gestellt sieht, entweder die vorher bis zum Wahnsinn, bis zum herzzerfetzenden Leid gesuchte Tochter Emma aufzugeben oder weiterzuschleppen durch die Not, dann richtet sich damit eine riesengroße Frage an unsere Gesellschaft. Wir begegnen nicht einer Mutter in der Sahelzone, nicht einer Bäuerin des Mittelalters, sondern einer alleinerziehenden Mutter der frühen Siebzigerjahre im prosperierenden Mitteleuropa (Schweiz, Italien). Und Lukas Bärfuss beweist uns, dass ALLEINERZIEHEND eine grausam-perfekte Beschreibung der Zustände bis heute ist. Die Frau wird von allen alleingelassen; und falls man/Mann hilft, folgt in Wirklichkeit Ausbeutung und Betrug.

Der Schriftsteller, der heuer das „Forum“ (16. bis 24. November) des Münchner Literaturfests kuratiert (siehe Kasten), modelliert mit beeindruckender Sorgfalt und Zuneigung seine Heldin Adelina vom Kleinkind bis zur Frau, der immer nur falsche Auswege bleiben. Die reine Personalisierung ist ihm freilich zu wenig. Das signalisiert er seiner Leserschaft mit dem ersten Satz des Romans: „Niemand weiß, wo Adelinas Unglück seinen Anfang nahm, aber vielleicht begann es lange vor ihrer Geburt, fünfundvierzig Jahre vorher, um genau zu sein, an der Universität von Graz.“ Ihr Großvater, ein Italiener, verfängt sich dort im Ideennetz des Nationalismus und Rassismus. Diese Eiterbeule wird nicht nur Völker infizieren und dezimieren, sondern bringt den Mann dazu, seine Frau, sich selbst, seinen Sohn und Adelina furchtbar zu schädigen. Bärfuss, der Büchner-Preisträger, schildert in einem atemlos temporeichen Geschichtsabriss, wie die Hass-Verachtungs-Ausgrenzungs-Ideologie ihren Träger und seine Nachkommen zersetzt.

Dann, in einer ruhigeren Sequenz, verschränkt der Autor Psychologie und Gesellschaftsanalyse ohne Simplifizierung. Im Gegenteil. Er deckt auf, dass die Ideen von extrem rechts und extrem links (Rote Brigaden) verlockend sein können, allerdings die Menschenwürde des Einzelnen stets missachten. Er deckt zugleich auf, dass jenes Gedanken(un-)gut nur entsteht, weil wir unsere Gesellschaft zu wenig aus den Materialien Freiheit, Gleichheit und Geschwisterlichkeit bauen. So reicht’s oft nicht mal für die tägliche Krume Brot.

Lukas Bärfuss:

„Die Krume Brot“. Rowohlt Verlag, Hamburg, 223 Seiten; 22 Euro.

Bärfuss kuratiert heuer das „Forum“ beim Literaturfest

Der Autor entlarvt die Ideen der politischen Extreme

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