Kinder ohne Zukunft

von Redaktion

AUSSTELLUNG Manfred Bockelmanns „Zeichnen gegen das Vergessen“

VON ULRIKE FRICK

Die Blicke kann man nicht vergessen: Ernst schauen einen die Porträtierten an. Manchmal ein bisschen ängstlich, wütend oder traurig. Aber immer direkt in die Augen. Es sind ausnahmslos Kinder, die da zu sehen sind. In Schwarz und vielen Grauschattierungen, mit Kohlestiften ganz realistisch auf grobem Jutestoff skizziert. Bis auf wenige Ausnahmen sind fast alle Zeichnungen im selben Großformat zu sehen: 150 auf 110 Zentimeter sind sie groß. Manche Kinder haben kahl geschorene Schädel und tragen gestreifte KZ-Uniformjacken. Manche tragen Blümchenblusen, offene Haare oder Zöpfe, zwei blonde Lockenköpfchen sogar kurze Lederhosen. Aber nirgendwo ein Lächeln.

Wie auch, schließlich wurden die Fotografien, auf deren Grundlage der Künstler Manfred Bockelmann seinen bewegenden Bilderzyklus anfertigte, in Konzentrationslagern wie Auschwitz-Birkenau oder Theresienstadt aufgenommen. „Zeichnen gegen das Vergessen“ heißt die Schau, die ab heute bis zum 16. November im Rahmen der Jüdischen Kulturtage im Jüdischen Zentrum am Münchner Jakobsplatz zu bewundern ist.

Bockelmann, neun Jahre jüngerer Bruder von Udo Jürgens, wurde zwar erst 1943 geboren und hatte demnach vom Zweiten Weltkrieg und den Gräueltaten des Nationalsozialismus im Gegensatz zu seinem Bruder praktisch nichts mitbekommen. „Das ,Dritte Reich‘ war zwar für mich immer ein Thema“, erzählt der lebensfrohe und charmante Mann im Gespräch. „Aber im Gegensatz zu Udo hatte ich da kein Trauma durch irgendwelche Kriegserlebnisse erfahren.“

Vor gut zehn Jahren, rund um seinen 70. Geburtstag, sorgte sich der Maler und Fotograf darum, was von seinem Werk einmal bleiben und Nachwirkung haben könnte. „Da wollte ich dann unbedingt noch etwas schaffen, was sich die Leute nicht einfach nur übers Sofa hängen.“ Er wolle etwas zeigen, was niemand von ihm erwarten würde, aber ihn persönlich stark beschäftige. Der Holocaust war ein solches Thema, und bei der intensiveren Auseinandersetzung fiel ihm etwas auf, „eine biologische Brücke“ nennt Bockelmann diese Erkenntnis. „Ich fühlte mich ein paar Fotos, die die Nazis bei der Aufnahme in ein Konzentrationslager von allen Kindern machten, ganz unmittelbar verbunden. Denn viele von ihnen waren mein Jahrgang oder nur wenig älter. Die hätte ich kennenlernen können. Das wären vielleicht meine Freunde geworden, vielleicht hätte ich mich in eine von ihnen verliebt?“

Das war der Ausgangspunkt für weitere Recherchen bei diversen Forschungs- und Gedenkstätten, erst online, „und am nächsten Tag war ich unterwegs“. Die Fotografien zeigen Juden, Sinti und Roma, Zeugen Jehovas, Slawen oder Russen. Der NS-Rassenwahn nahm ihnen die Daseinsberechtigung. Aber zuvor wurde der Massenmord an europaweit über einer Million Kindern sorgsam dokumentiert. Aus „erkennungsdienstlichen Gründen“ lichtete man die Minderjährigen zuvor noch ab. Alle kamen direkt aus den Zügen, von der Selektion, waren auf der Suche nach ihren Eltern und hatten vermutlich keine Ahnung, wo sie da gelandet waren. Manche wussten nicht, dass sie ihren Mördern gegenübersaßen, und blickten recht freundlich, um einen guten Eindruck bemüht. Andere ahnten wohl mehr, als sie wussten, was vor der Baracke auf sie warten wird. Natürlich gibt es auch in anderen Kriegen auf der Welt viele Kinder, die ihr Leben lassen müssen. „Aber das sind dann meistens unabsichtliche Tote, die man mit diesem schrecklichen Wort ‚Kollateralschäden’ benennt“, sagt Bockelmann. „Das hier aber waren geplante, fabrikmäßige Ermordungen. Es gab Kindertransporte nach Auschwitz.“

Etwa 130 Porträts hat Bockelmann inzwischen nach den Aufnahmen angefertigt. Im Hubert Burda-Saal des Jüdischen Zentrums ist ein Fünftel davon zu sehen. Eine schöne, kleine Ausstellung mit enormer Wirkung. Die, so hofft Bockelmann, möglichst viele Schüler sehen sollten. „Ich habe erkannt, dass ich die Welt nicht verbessern kann mit meiner Arbeit. Aber wenn sie sich um einen Millimeter positiv verändert, wäre auch schon etwas erreicht. Meine Generation, die interessiert mich nicht mehr. Die Jungen, die sind meine Zielgruppe.“ Und die kommen ab heute bis morgen hoffentlich in Scharen, alleine, mit Freunden, der Schulklasse oder Familie.

Nur noch bis 16. November

im Jüdischen Zentrum, St. Jakobs-Platz 18, Anmeldung zu Besuchen und Führungen unter info@juedischekulturmuenchen.de; Telefon 089/ 35 61 24 86.

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