Die Sündenböcke der Propaganda

von Redaktion

Regisseur Ken Loach über Fremdenhass, Ausbeutung und seinen Film „The Old Oak“

Er hat Skandale aufgedeckt und Missstände angeprangert – und dabei wie kein anderer Regisseur knallhartes politisches Engagement mit erfrischendem britischem Humor kombiniert: Durch Filme wie „Riff-Raff“, „It’s a free World“ oder „Ich, Daniel Blake“ wurde Ken Loach zum Weltmeister des Sozialrealismus. Weit über 100 Preise hat er gewonnen, darunter zweimal die Goldene Palme in Cannes. Nun präsentiert der 87-Jährige seinen endgültig letzten Film: In „The Old Oak“ (Kinostart am 23. November) geht es um Kriegsflüchtlinge aus Syrien, die in einer heruntergekommenen nordenglischen Bergbaugemeinde einquartiert werden – und um den Wirt des titelgebenden Pubs, der kurz vor dem Ruin steht und zwischen alle Fronten gerät, als er sich mit einer syrischen Fotografin anfreundet. Bei unserem Zoom-Interview zeigt sich Ken Loach so hellwach, pfiffig und kämpferisch wie eh und je.

Erstaunlich, dass Sie in Ihrem Film sogar die Dorfbewohner, die den Geflüchteten mit offenem Hass entgegentreten, nicht pauschal verurteilen, sondern die Ursachen für deren Feindseligkeit aufzeigen.

Ich fände es zu billig, ein paar rechtsradikale Brüllaffen als eindimensionale Bösewichte zu zeichnen. Wenn man Fremdenhass erfolgreich bekämpfen will, muss man verstehen, woher er kommt. Niemand wird als Rassist geboren. Und ähnlich wie vor 100 Jahren, als der Faschismus aus Angst und Verunsicherung erwuchs, gibt es auch heute in ärmeren Gegenden wieder einen Nährboden für Ressentiments – etwa in Nordengland, wo viele Bergbausiedlungen nach der Zwangsschließung der Zechen von der Politik völlig im Stich gelassen und dem Verfall preisgegeben wurden: Die Menschen sind frustriert, wütend und verzweifelt; sie sehen keine Perspektive mehr und suchen jemanden, dem sie die Schuld dafür geben können. So werden sie anfällig für rechtsextreme Propaganda, die ihnen die gewünschten Sündenböcke präsentiert. Politiker sprechen von „Invasionen“ von Immigranten, die das Land angeblich „überschwemmen“. Britische Boulevardzeitungen, die fast ausnahmslos rassistisch geprägt sind, drucken nahezu täglich Schauergeschichten über Einwanderer, denen es angeblich besser geht als den Einheimischen. Und viele Menschen fallen darauf herein. Auf diese Weise führen politische Auswüchse – vernichtete Arbeitsplätze, fehlende Investitionen – irgendwann zu Fremdenhass.

Im Gegensatz zu Ihren beiden vorangegangenen Filmen hat „The Old Oak“ ein hoffnungsvolles Ende. Woher kommt in diesen schwierigen Zeiten Ihre Zuversicht?

Ich glaube fest daran, dass Solidarität zu den Urinstinkten des Menschen zählt – und dass der Instinkt, sich gegenseitig zu unterstützen, letztlich stärker ist als der Instinkt wegzulaufen. Ich bin sicher, wenn einer von uns beiden hilflos auf der Straße liegt, dann eilt der andere ihm zu Hilfe. Ohne Solidarität gäbe es keine gesellschaftliche Veränderung. Und ohne Hoffnung könnte man sich gleich erschießen.

Sie haben einmal gesagt, Sie seien kein Idealist, sondern ein Realist. Fürchten Sie nicht, dass Ihre Sicht der Dinge vielleicht nur eine Wunschvorstellung ist?

Nein, denn meine Erfahrung hat mich eines Besseren belehrt. Unser Film spielt im Jahr 2016, als die allerersten Geflüchteten aus Syrien nach England kamen – und dort, wie sie uns erzählten, auf enorme Aggressivität und Feindseligkeit stießen. Aber ein paar Jahre später haben wir bei unseren Recherchen erlebt, wie sich die Dinge mittlerweile entwickelt hatten: Kluge, entschlossene, einfühlsame Aktivisten hatten es geschafft, Kontakte zwischen Briten und Syrern zu knüpfen – sie aßen zusammen, spielten Fußball, tauschten Geschichten aus, entdeckten Gemeinsamkeiten und konnten nachempfinden, was ihr Gegenüber durchgemacht hatte. Hier hat sich einmal mehr gezeigt, dass wir Menschen uns tatsächlich zum Positiven verändern können.

Wie sähe mit Ihrer Erfahrung aus fünf Jahrzehnten des politischen Engagements Ihr wichtigster Rat an junge Aktivisten aus?

Ach, ich glaube, die brauchen keine neuen Ratschläge von einem alten Sack. Der berühmte Leitspruch „agieren, informieren, organisieren“ gilt auch heute noch, wobei „organisieren“ meiner Meinung nach das Wichtigste ist. Zudem denke ich, dass wir unsere Kämpfe zu oft nur im eigenen Land austragen und uns international nicht genug vernetzen. Großkonzerne werden stets überall dort investieren, wo Menschen notfalls bereit sind, Gras zu fressen, um Arbeit zu bekommen. Es reicht also nicht, bloß „Die Internationale“ zu singen – wir müssen auch international denken. Und wir sollten uns dringend von so manchem Hirngespinst verabschieden.

Zum Beispiel?

Von der Vorstellung, die Konzerne würden irgendwann die Bedürfnisse der Menschen erkennen und der Markt werde letztlich alle Probleme lösen. In Wahrheit gibt es einen gnadenlosen Wettbewerb: Sobald ein Konzern einen neuen Weg der Ausbeutung findet, müssen die anderen mitziehen, sonst sind sie weg vom Fenster. Es ist ein fataler Irrtum zu glauben, das kapitalistische System ließe sich gerecht ausgestalten. Jeder Sektor unserer Gesellschaft – Wohnen, Gesundheit, Bildung und so weiter – steht vor dem Kollaps; die freie Marktwirtschaft, die auf permanen-tem Wachstum beruht, zerstört die Menschen und die Ressourcen unseres Planeten. Kosmetische Veränderungen bringen also gar nichts. Wer ein Omelett möchte, muss ein paar Eier zerbrechen!

Das Gespräch führte Marco Schmidt.

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