Die Sonne als Urquelle der Kraft des Lebens. Der Schrei als Ausdruck der Angst vor drohender Zerstörung aller Natur. Die Küste des Meeres als Quelle der Gesundung. Die wilde Sturm- und Schneelandschaft als Verneigung vor dem Wechsel der Jahreszeiten. Die Mädchen auf der Brücke in der Kleinstadt als Ausdruck von Hoffnung. Der junge Mann mit blutendem Herzen der Melancholie anheimgefallen. Finstere Wälder als Hort der Märchen, der Erotik wie auch ihrer Unmöglichkeit.
So überreich ist die Palette jener Gemälde und Lithografien des bedeutenden Norwegers Edvard Munch (1863-1944), die derzeit das Museum Barberini in Potsdam seinen Besucherinnen und Besuchern ausbreitet. „Munch. Lebenslandschaft“ stellt einen weiteren Höhepunkt in der jungen Geschichte dieses von Ortrud Westheider geführten Ausstellungshauses dar.
Es ist die erste große Retrospektive, 116 Werke, die sich intensiv der Faszination des Malers für die Natur widmet. Um die Jahrhundertwende, vor dem Ersten Weltkrieg, machte er die damals bereits existierende Sorge um die Zerstörung unseres Lebensraums Erde zum Thema, wenn auch zu heute in entgegengesetzter Weise. Nicht um die Erwärmung unseres Planeten wurde gebangt, vielmehr war es die Furcht vor einer neuen Eiszeit. So ging es Munch um die Schönheit der Natur und um ihre Gefährdung durch die Zerstörung des Kreislaufs der Schöpfung, in deren Mikrokosmos der Mensch ein Teil nur von vielen Teilen darstellt. Daher ist es zu verstehen, dass Munch immer wieder der Sonne huldigt, dass er dem geheimnisvollen Zauber der Mond-Spiegelung auf dem Meer unwiderstehlichen Ausdruck verleiht und dass er in einer Reihe von Bildern der bäuerlichen Arbeit mit Pferd, Pflug und Sense ein Denkmal der Hoffnung aller zu ahnenden Katastrophen entgegensetzt.
Die Schau ist in acht Abteilungen gegliedert: Im Wald. Mythen und Märchen; Garten und Feld. Kultivierung der Natur; Zwischen Land und Meer. Räume der Melancholie; Sommerfrische. Rückzug ans Meer; Schrei der Natur. Mensch und Umwelt; Schnee und Sturm. Aufruhr der Natur; Zyklen der Natur. Kunst und Philosophie; Licht und Wissen. Wandbilder für die Universität Oslo. Für Letztere wurde im Barberini eigens ein „Raum im Raum“ installiert, in dem die Hängung der teilweise sechs Meter langen monumentalen Entwürfe für die Universitätsaula adäquat ermöglicht wurde. Bestimmendes Thema war für Munch auch hier die Sonne, als Licht der Erkenntnis. Gefeiert wird darin die 1905 erfolgte Unabhängigkeit Norwegens von Schweden und die Verbindung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, von Wissenschaft und Kunst im besonnten Universum.
Den größten Teil seines Lebens verbrachte Edvard Munch, der psychisch selbst nicht unbelastet war, am Oslofjord oder in dessen Nähe. In der charakteristisch geschwungenen Uferlinie sah er eine Parallele zu den sich ständig verändernden Lebenslinien, den Gefühlen der Menschen, von Trennung, Anziehung und Einsamkeit. Für ihn hatte alles, was in und aus der Natur entsteht, eine Seele. „Er sieht in Wellenlängen; er sieht die Küstenlinie sich am Ozean entlangschlängeln. In Wellen erkennt er Frauenhaar und Frauenkörper.“ So beschrieb 1896 der norwegische Schriftsteller Sigbjørn Obstfelder den Munch-Kosmos. Zu dem gehört aber auch die zur Schau gestellte selbstbewusste Männlichkeit in den Gemälden der nackten Männer am Ostseestrand von Warnemünde.
Munch, so heißt es im exzellenten Katalog zur Ausstellung, war sich der Gefahren, die von den modernen Zeiten ausgehen, ebenso schmerzhaft bewusst wie wir heute; diese Gefahren waren für ihn die ganze Zeit präsent und bedrängten ihn. Dass die Natur universell ist und für immer fortbesteht, verstand sich für ihn nicht von selbst. Im Gegenteil. Seine Gemälde tasten die Grenzen zwischen Mensch und Natur ab und loten das sich verändernde Kräfteverhältnis zwischen beiden aus. Eine so wunderbare wie hochaktuelle Ausstellung.
Bis 1. April
Mo. 10-19 Uhr, Mi.-So. 9-19 Uhr, Museum Barberini, Potsdam; Katalog (Prestel): 45 Euro (Buchhandel), 39,90 Euro (Museumsshop). Parallel ist die Schau „Edvard Munch. Zauber des Nordens“ in der Berlinischen Galerie zu sehen, bis zum 22. Januar. Für den Besuch beider
Ausstellungen gibt es Kombitickets für 20/12 Euro; www.museum-barberini.de.