Theater zum Träumen

von Redaktion

MÜNCHEN-PREMIERE Das Staatsschauspiel zeigt „Andersens Erzählungen“

VON TOBIAS HELL

Es war im wahrsten Sinne des Wortes ein märchenhaftes Theater-Wochenende in München. Denn nachdem die Bayerische Theaterakademie ihr Jubiläum zum 30-jährigen Bestehen mit einer Musical-Fassung von Hans Christian Andersens „Prinzessin auf der Erbse“ feierte (Kritik siehe Seite 16), legte keine 24 Stunden später das Residenztheater mit einer berührenden Hommage an den dänischen Dichter nach. Und auch „Andersens Erzählungen“ ist ein Abend, der auf seine ganz eigene Art zwischen den Genres schwebt: ein Schauspiel mit viel Musik und Tanz, das nach seiner Basler Uraufführung nun endlich auch bei uns angekommen ist und vom Premierenpublikum begeistert empfangen wurde.

Obwohl die Inszenierung für Kinder ab zehn Jahren freigegeben ist, sollte man sie nicht mit klassischen Familien-Produktionen verwechseln, wie man ihnen vor Weihnachten gern begegnet. Autor Jan Dvořák und Komponist Jherek Bischoff haben hier ein Stück kreiert, das Andersens Leben (1805-1875) mit einem seiner berühmtesten Werke verschmilzt, dem tragischen Märchen der „Kleinen Meerjungfrau“. Emotional verbunden ist der Text durch das gemeinsame Motiv einer unerfüllten Liebe, die an den Erwartungen der Gesellschaft scheitern muss.

Regisseur Philipp Stölzl, der gemeinsam mit Heike Vollmer auch für den fantasievollen Bühnenraum verantwortlich zeichnet, findet immer wieder poetische Bilder, deren Wirkung sich durch das ausgefeilte Lichtdesign von Gerrit Jurda und Bischoffs atmosphärische Klangflächen noch verstärkt. Was als bunt bebildertes Unterwasser-Märchen beginnt, das mit simpler, aber effektvoller Theatermagie mühelos die Computerbastler von Disney aussticht, wandert schnell in die nüchternen Wände des Hauses von Jonas Collin.

Andersens Ziehvater ist vom plötzlichen Besuch seines ehemaligen Schützlings wenig begeistert, droht dieser doch, die trügerische Idylle der anstehenden Hochzeit von Sohn Edvard ins Wanken zu bringen. Für den Bräutigam hegt Hans Christian nämlich mehr als nur freundschaftliche Gefühle.

Durchbrochen wird die angespannte Situation immer wieder durch Episoden aus der „Kleinen Meerjungfrau“, deren Hauptfiguren von den Menschen aus Andersens Leben verkörpert werden. Dabei merkt man dem Ensemble den Spaß an den Wechseln zwischen den Extremen an. So etwa Oliver Stokowski, der den gefühlskalten Vater Collin ähnlich intensiv mimt wie die wild überdrehte Meerhexe. Oder Cathrin Störmer, die neben ihrer Märchenrolle auch bei der anfangs so gefühlskalt wirkenden Mutter Collin immer mehr Risse in der zum Selbstschutz errichteten harten Fassade erkennen lässt.

Dreh- und Angelpunkt des Abends bleibt natürlich trotzdem Moritz Treuenfels, der als Andersen mit nuanciertem Spiel ein tief zu Herzen gehendes Porträt des Dichters zeichnet, hinter dessen humorvoll verschrobenem Auftreten eine düstere Melancholie verborgen liegt: mal schüchtern, mal verzweifelt, dann wieder überraschend aggressiv, wenn sich andere Märchenfiguren ins Unterbewusstsein einmischen. Wobei Treuenfels dem überaus agilen Tanz-Ensemble virtuos seine unterschiedlichen Stimmen leiht. Eine sensible Partnerin ist ihm hier neben Isabell Antonia Höckel als sein Meerjungfrauen-Alter-Ego vor allem Linda Blümchen. Sie verkörpert Edvards Braut nicht nur als eine mitfühlende, verwandte Seele, sondern gleichzeitig als unwissende Rivalin. Ein Balanceakt, den sie ebenso brillant meistert wie Thomas Lettow, der als Bräutigam auch gesanglich aufhorchen lässt.

Und selbst wenn sehr wohl zu hören ist, dass mit Ausnahme der beiden verführerischen Meerschwestern (Laura Richter und Fee Suzanne de Ruiter), kaum jemand über eine klassische Gesangsausbildung verfügt, fällt dies fast gar nicht ins Gewicht. Weil auch diese scheinbare Schwäche vom Ensemble genutzt wird, um individuelle Charakterzüge zu vertiefen. Ein magischer Abend!

Nächste Vorstellungen

am 22., 24., 26. November; Telefon: 089/21 85 19 40.

Der Abend wurde im Jahr 2019 in Basel uraufgeführt

Treuenfels zeichnet ein berührendes Porträt des Dichters

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