Das große Finanztheater

von Redaktion

URAUFFÜHRUNG Die Kammerspiele zeigen „WoW – Word on Wirecard“

VON ALEXANDER ALTMANN

Um gleich mal die Karten auf den Tisch zu legen: Betrug gibt es in Wirklichkeit gar nicht, sondern man müsste ihn „Simulation von Wirklichkeit“ nennen. Zumal in Wirklichkeit ja auch die Wirklichkeit nur eine Simulation ist – oder so ähnlich. Aber wer all das „nicht wirklich“ kapiert, kann trotzdem etwas Spaß haben an der Uraufführung von „WoW – Word on Wirecard“ in den Münchner Kammerspielen (Therese-Giehse-Halle), die uns solche simulierten Weisheiten auftischt.

Denn der Abend setzt nicht alles auf eine Karte, sondern ist auch eine saftige Retro-Show im Stil der Siebzigerjahre: Da sieht man Frauen mit Riesenbrillen und Männer mit Koteletten, Zimmerpflanzen stehen im Großraumbüro auf gefliesten Podesten, es gibt orangefarbene Plastikschalensitze, neben gefüllten Aschenbechern quäkt ein Kassettenrekorder (Bühne: Fabien Lédé). Aber auch, wenn passend hierzu der Schmachtfetzen „Albatross“ von Fleetwood Mac erklingt, bleibt das nostalgische Idyll nicht ungetrübt.

Schon vorab hatten alle Zuschauerinnen und Zuschauer nämlich Ohrstöpsel bekommen, und tatsächlich wechselt die Soundkulisse (Lubomir Grzelak) zwischendurch auf volle Dröhnung. Da vibrieren die Sitzreihen, und die Beats pulsieren durch die Eingeweide, während das Stroboskoplicht nur so flackert. Wie könnte es auch anders sein, wenn der gefeierte polnische Regisseur Łukasz Twarkowski inszeniert, der das klassische Krawall- und Überforderungstheater digitalisiert hat und als eine Art Cyber-Castorf Furore macht. Dementsprechend wird das Bühnengeschehen natürlich per Live-Kamera auf eine riesige Leinwand und sonstige Bildschirme übertragen, bis man nicht mehr weiß, wo man zuerst hinschauen soll und irgendwann vor der Reizüberflutung kapituliert.

Ihrem Titel zum Trotz hat diese anstrengende, dreistündige Multimedia-Performance (eine Pause), zu der Anka Herbut den Text beisteuerte, nur in zweiter Linie zu tun mit dem Skandal um die Firma Wirecard aus Aschheim bei München, die kometengleich zum DAX-Konzern (!) aufstieg – bis der ganze Fake 2020 zusammenbrach und am Ende 1,9 Milliarden fehlten, weil die auch nur simuliert waren. Statt zu fragen, ob Geld heute nicht überhaupt bloß noch simuliert ist, ästhetisiert das Stück diese Hochstapler-Geschichte hübsch postmodern zum unpolitischen Spiel mit drei Realitätsebenen und verknüpft sie mit dem alten Science-Fiction-Topos, den man auch aus den „Matrix“-Filmen kennt: dass unsere Wirklichkeit nur eine Simulation ist.

„WoW“ erzählt also davon, wie 1973 (daher das Retro-Design) ein Spielfilm gedreht wird über ein fiktives Forschungsinstitut jener Zeit, das durch Computersimulation die Zukunft erkunden will. Und innerhalb dieser Simulation ereignet sich dann eben der Crash einer Finanzfirma namens Wirecard im Jahr 2020 – bis sich die Ebenen, in denen ohnehin immer die gleichen Personen als Simulationen ihrer selbst vorkommen, vermischen und einzelne Akteure zwischen ihnen hin und her switchen. So beeindruckt neben Stefan Merki und Annette Paulmann vor allem Elias Krischke, der schön schlafwandlerisch solch einen Zeitreise-Zombie spielt und dabei aussieht wie ein Android aus dem Film „Blade Runner“. Letztlich ähnelt er damit uns, die leicht belämmert aus diesem Bild- und Ton-Overkill herauswanken, nachdem sie vorher noch kräftigen Applaus simuliert haben.

Nächste Vorstellungen

am 23., 24., 28., 29. November;

Telefon 089/23 39 66 00.

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