Was verführt ein Theater, einen Regisseur heute dazu, George Orwells einst so visionären Roman „1984“ auf die Bühne zu bringen? Geschrieben nach dem Zweiten Weltkrieg, erschienen 1949, trat diese dystopische Geschichte über staatliche Gehirnwäsche, Manipulation und Folter, über den perfekten Überwachungsstaat ihren Siegeszug um die Welt an. Im realen 1984 konnte man sich fragen: Ist diese Schreckensvision jetzt die Realität? Die Ähnlichkeiten waren erstaunlich. Jetzt aber sind wir fast 40 Jahre weiter, und man hätte sich von Regisseur Luk Perceval und dem Berliner Ensemble, wo soeben „1984“ Premiere hatte, nicht bloß eine Bestätigung dessen, sondern eine Weiterführung, eine abermalige prophetische Vorausschau erwartet.
Was ist mit Big Brother? Wie könnte unsere Welt in 40 Jahren aussehen? Mit der Bühnenfassung des Romans stehen zu bleiben bei Orwells erschreckender Vision, ergibt für eine zeitgenössische Theaterversion wenig Sinn. So streicht Perceval aus dem Politroman über die Diktaturen von Faschismus und Stalinismus und die Kriege in der Welt die konkrete Gesellschaftsanalyse und macht zum einzigen Zentrum Orwells Protagonisten Winston Smith. Den allerdings in vierfacher Ausfertigung (Paul Herwig, Gerrit Jansen, Oliver Kraushaar, Veit Schubert). Farblose Gestalten in grauen Anzügen, die den Romantext kleinstteilig untereinander zersplittern – sachlich, protestmäßig, stammelnd, seufzend, stöhnend, schreiend.
Eine Sisyphos-Arbeit. Eine lediglich perfekt choreografierte szenische Lesung des stark eingestrichenen Textes. Nicht nur, dass vier Schauspieler als nur eine Person auftreten. Sie vervielfachen sich zudem durch große, raffiniert zueinanderstehende Spiegelwände (Bühne: Philip Bußmann) in eine gestaltlose, graue Masse. Neue Erkenntnisse gehen von diesem Theaterabend nicht aus. Wir wissen das alles längst, wissen, wie wir hinters Licht geführt, mit Fake News gefüttert, medial kontrolliert, durch Künstliche Intelligenz verunsichert werden und einer Gesinnungsschnüffelei ausgesetzt sind. Keine Wahrheit im schauspielerischen Ausdruck, keine Neugier auf einzelne Figuren, keine überraschenden Zusammenhänge. Außer vielleicht die Ahnung, dass auch die Schauspieler selbst manipuliert sein könnten und ihre Textberge vom Teleprompter ablesen dürfen.
Nach der Pause, in der im Saal das Herunterbeten aus dem fiktiven, geheimen Buch „Theorie und Praxis des oligarchischen Kollektivismus“ des angeblich liquidierten Funktionärs Immanuel Goldstein erfolgt, der auch nur eine politische Erfindung des Systems ist, dominieren die Rückseiten der Spiegelwände das Bühnenbild. Marterpfähle aus hellem Holz. Dahinter das erste heimliche Zusammensein des Liebespaares Winston Smith und Julia (Pauline Knof) in Hörspielversion. Davor immer wieder die gepeinigten vier grauen Männer, die nicht nur einer sein sollen, sondern jetzt auch noch O’Brien, der Chefideologe des Systems, Verführer, Folterer, Gehirnwäscher und Mörder.
Lichtblick sind die drei als Sängerinnen auftretenden Julia-Kopien, deren Vortrag alter, sehnsuchtsvoller mehrstimmiger Volkslieder aus Korsika und Italien einfach nur schön ist. Am Ende gestattet sich Perceval dann doch noch seine eigene Utopie: Julia und Winston überleben, sie werden es erneut miteinander versuchen.
Das Gegenteil ist der Fall in der Premiere von Kleists „Prinz Friedrich von Homburg“ wenige Tage zuvor an der Berliner Schaubühne in der Regie von Jette Steckel. Sie funktionierte das geniale Gewissensdrama zwischen Traum und Wirklichkeit zum aktuellen Antikriegsstück um, an dessen Ende sich der Prinz (Renato Schuch) erschießt. Wo uns der Krieg in Bild und Ton in den Nachrichten frei Haus geliefert wird, ist die Nachstellung auf der Bühne schlicht lächerlich. „Bei Gott! Solch einen Donner des Geschützes/ Hab ich zeit meines Lebens nicht gehört“, heißt es im zweiten Akt. In einem solchen Bühnendonner und einem Berg von grauen Sandsäcken und albernen Übungen der Schauspieler an Maschinengewehr-Attrappen versenkt denn auch traurig die Regisseurin das Stück. Einziger Höhepunkt: die grandiose, uneitle Jule Böwe als müder, hoffnungsloser Kottwitz, der diesmal eben eine Frau ist.
Aller guten Dinge sind drei. Und das Beste kommt zuletzt, nämlich die Premiere „The Silence“ von Falk Richter, der seinen Text auch selbst inszenierte. Ort der Aufführung: abermals die Schaubühne am Lehniner Platz. Mit einem fast zweistündigen Monolog zieht der 54-Jährige das Publikum in seinen Bann, in die Welt seiner Kindheit, dem spießbürgerlichen Dasein in einer westdeutschen Kleinstadt, dem Beschweigen familiärer Probleme, insbesondere jener des heranwachsenden Sohnes mit schwuler Identität und der filmisch wiedergegebenen Befragung der heute alten Mutter.
Eine sehr persönliche, individuelle und doch allgemeingültige Selbstbefragung. Die gelingt so gut, weil Dimitrij Schaad ihr seine vitale wie sensible Präsenz und schauspielerische Brillanz verleiht. Zudem versteht er es noch, mit Witz und Charme zwischen seiner Rolle als Falk Richter und sich selbst als Schauspieler mit russischer Herkunft zu changieren. Ein Glücksfall.
Orwells Roman als unbefriedigende Theater-Version
Spießbürger schweigen über familiäre Probleme