Speerspitze der Revolution

von Redaktion

Gerard Mortier, der große Theater-Ermöglicher, hätte am Samstag 80. Geburtstag gefeiert

VON MARKUS THIEL

Seine letzte Salzburger Tat muss man ihm verzeihen. Damals, 2001, durfte Hans Neuenfels mit seiner „Fledermaus“-Inszenierung das Festspiel-Publikum schocken. Die Sache ging gründlich schief – und blieb in Erinnerung, dass hier Regisseur und Intendant der Klunker-Gemeinde ihre Stinkefinger zeigten. Der Flop konnte jedoch eines nicht verdrängen: Ohne Gerard Mortier wären die Salzburger Festspiele nicht das, was sie heute sind. Viel mehr noch: Mortier, der an diesem Samstag seinen 80. Geburtstag gefeiert hätte, machte nicht nur das Festival unterm Mönchsberg, sondern auch die Oper in Brüssel und, als letztes Projekt, das Teatro Real in Madrid fit für die Gegenwart.

„Theater machen bedeutet, die Routine des Alltäglichen zu durchbrechen, die Akzeptanz wirtschaftlicher, politischer und militärischer Gewalt als Normalität infrage zu stellen, die Gemeinschaft zu sensibilisieren für Fragen des menschlichen Daseins, die sich nicht durch Gesetze regeln lassen, und zu bekräftigen, dass die Welt besser sein kann, als sie ist.“ So sein Credo, formuliert in seiner Schrift „Dramaturgie einer Leidenschaft“. Das schmale Buch, 2014 erschienen, ist Mortiers Vermächtnis und sollte die Bibel sein für die weltweite Theatergemeinde, zumindest aber auf deren Nachttischen liegen. Im Bestreben, das Theater im Jetzt zu verankern, die großen Stoffe einer gesellschaftlich relevanten Neubefragung zu unterziehen, wurde Mortier zum größten Spürhund der Szene, zum Entdecker und Förderer von Regisseuren, die später in den engsten Kreis der Opernfamilie rückten. Christoph Marthaler zum Beispiel, Peter Sellars, Karl-Ernst und Ursel Herrmann, Peter Mussbach oder Herbert Wernicke. In den von ihm verantworteten Produktionen suchte Mortier stets den – immer fruchtbaren – Konflikt, statt sich den Erfordernissen von Kommerz oder falsch verstandener Tradition zu beugen.

Mortier, der Sohn eines Bäckers, stammte aus dem flämischen Gent. Als promovierter Jurist begann er seine Karriere als Assistent beim Flandern-Festival. An den Opern von Düsseldorf, Frankfurt, Hamburg und Paris leitete Mortier die Betriebsbüros, 1981 dann startete er als Intendant seine Brüsseler Ära. Was er dort erprobte, wurde zu seinem Salzburger Rezept. Als Mortier 1991 die Festspiele übernahm, kam das einer Revolution gleich. Das Spektakel war „dank“ Herbert von Karajan künstlerisch erstarrt. Umso mutiger von den Entscheidungsträgern (was heutzutage undenkbar wäre), sich jemanden ins Haus zu holen, der alles hinterfragte und mit Überkommenem brach. 25 Opern des 20. Jahrhunderts holte Mortier in seinen zehn Jahren auf die Salzburger Bühnen – allein das spricht Bände. Legendäre Produktionen entstanden, Monteverdis „L’Orfeo“ im Residenzhof zum Beispiel, auch Messiaens „Saint François d’Assise“ oder mit Berlioz’ „La damnation de Faust“ die erste Musiktheaterarbeit von La Fura dels Baus.

An diese Erfolge konnte Mortier an seinen folgenden Wirkungsstätten – bei der Ruhrtriennale, an den Opernhäusern in Paris oder Madrid – nicht ganz anknüpfen. Vielleicht auch, weil er gern auf bewährte Kräfte vertraute, was eine gewisse Wiederholungsgefahr barg. Irgendwann musste Mortier auch den schwierigsten Kampf aufnehmen: gegen den Krebs. Seinen 70. Geburtstag feierte er noch, schwer von der Krankheit gezeichnet, anlässlich einer Aufführung von Strauss’ „Die Frau ohne Schatten“ in München, mit Kirill Petrenko am Pult und in der Regie von Krysztof Warlikowski. Kurz danach gab es keine Hoffnung mehr, am 8.  März 2014 starb Mortier in Brüssel.

Doch viele, die von seinem Theatermacher-Virus infiziert wurden, teils ehemalige Assistenten, trugen und tragen seine Gedanken weiter – und lassen sie Realität werden. Bernd Loebe an der Frankfurter Oper zum Beispiel, Peter de Caluwe (Brüssel), Serge Dorny (früher Lyon, jetzt München) oder Viktor Schoner (Stuttgart). Wer auf die gegenwärtige Opernszene blickt, muss trotzdem und frustriert konstatieren: Einen streitbaren Erneuerer wie Gerard Mortier sucht man vergeblich.

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