Was unterscheidet den Einflussreichen von jenen, die von seiner Gunst abhängig sind? Wodurch zeichnet sich der Mächtige aus? Durch seinen Umgang mit der Zeit. Und so studiert Johann Buddenbrook mit einer schier unglaublichen Gewissenhaftigkeit die zehn Bilanz-Seiten, die ihm sein Hallodri-Schwiegersohn präsentiert. Da winselt Thomas Reisinger und windet sich unter dem Ticken der Uhr, schließlich geht’s um das wirtschaftliche Überleben seines Bendix Grünlich. Robert Dölle jedoch, so scheint es auf der Bühne des Cuvilliéstheaters, vollzieht in der Rolle des Kaufmanns jede Gleichung, die ihm vorgelegt wird, im Kopf nach. Bis hin zur Nachkommastelle. Er hat schließlich Zeit.
Es ist eine Szene, die zeigt, wie genau Bastian Kraft und sein Ensemble an diesen „Buddenbrooks“ gearbeitet haben. Wie es ihnen gelingt, ohne viele Requisiten und mit deutlich weniger Worten als Thomas Mann in seinem Roman Menschen zu formen und deren Motivation offenzulegen. Kraft hat die Vorlage, die 1901 erschienen ist und für die Mann 1929 den Nobelpreis erhielt, sehr geschickt kondensiert und theatertauglich gemacht.
Es ist nicht die erste Beschäftigung des Regisseurs mit dem Schriftsteller (1875-1955). Seine Inszenierung von Manns „Felix Krull“ läuft mittlerweile im zwölften Jahr am Münchner Volkstheater. Nun hat er sich fürs Staatsschauspiel den Verfall der Lübecker Kaufmannsfamilie Buddenbrook vorgenommen; am Donnerstag war die herzlich beklatschte Premiere des dreistündigen Abends (eine Pause).
Ins Zentrum rückt Kraft hier Hanno, der als Erzähler durch die Familiengeschichte führt; die in Leder gebundene Chronik der Buddenbrooks ist auf der Bühne stets präsent: Schließlich geht nichts in diesem Haus über Herkunft und Tradition. Sehr geschickt unterstreicht das Bühnenbildner Peter Baur durch 22 große Bilderrahmen in der Petersburger Hängung, auf die Sophie Lux ihre Porträts der Angehörigen projiziert. Der wechselnde Gemäldereigen kommentiert elegant das Geschehen.
Dieses ist weitgehend losgelöst von zeitlicher und lokaler Verortung. So gelingt es Kraft, eine sehr heutige Geschichte zu erzählen und darüber zu berichten, wie Erwartungsdruck von außen und das innere Gefühl des Verpflichtetseins den Menschen das Leben schwer machen. Vor allem im ersten Teil funktioniert das wunderbar, da greifen die Szenen organisch ineinander, ist das Tempo hoch. Nach der Pause verliert die Produktion etwas von ihrer Dringlichkeit und ihrem Esprit.
Dennoch sind die „Buddenbrooks“ ein Fest fürs Ensemble, dem man gerne zusieht: Robert Dölle etwa, der als Ahnherr korrekt bis zum rechten Winkel seines Einstecktuchs auftritt (Kostüme: Jelena Miletić). Oder die stets überzeugende Liliane Amuat, die ein berührendes Porträt ihrer Antonie zeichnet, die doch nur selbstbestimmt leben will, aber den letzten Schritt irgendwie immer vermasselt. Michael Wächter gibt als Thomas den strengen Siegelbewahrer des Clans – und lässt erst im finalen Streit mit Bruder Christian (herrlich entrückt: Thiemo Strutzenberger) durchblicken, wie sehr auch er leidet. Es glückt niemandem, seine Rolle einfach abzustreifen – das sind der Fluch und die große Tragik dieser Familie.
Nächste Vorstellungen
an diesem Samstag sowie am 2., 11., 15. Dezember (alle ausverkauft; mit Glück gibt es Restkarten an der Abendkasse). Die Termine am 8., 14., 22., 29. Januar gehen am 1. Dezember in den Vorverkauf; www.residenztheater.de.
Thomas Mann hat die „Buddenbrooks“ 1901 veröffentlicht
Der Abend ist auch ein Fest für das Ensemble