Er läuft und läuft und läuft. Das Publikum im Münchner Volkstheater hat noch nicht die Plätze eingenommen, da dreht Jakob Fabian bereits seine Runden. Unermüdlich. Doch ankommen, das darf an dieser Stelle vorweggenommen werden, wird dieser Mann nicht, der sich selbst einen „Moralisten“ nennt: Weder kann er sein Gedankenkarussell stoppen noch den Lauf der Welt ändern. Was also tun?
Es ist ein so schlichtes wie einprägsames Bild, mit dem Philipp Arnold seine Inszenierung beginnt. Indem er Anton Nürnberg, einen der beiden Fabian-Darsteller, ordentlich Strecke machen lässt, gibt er die Grundstimmung der folgenden rund zwei Stunden vor. Sie pendelt zwischen Sinn-, Rat- und Ausweglosigkeit. Ein Ziel wird nicht erreicht; mehr noch: Es scheint nicht einmal klar, wie dieses Ziel überhaupt aussehen könnte.
Der Hausregisseur des Volkstheaters hat zusammen mit Dramaturgin Hannah Mey Erich Kästners Roman „Fabian“ aus dem Jahr 1931 für die Bühne adaptiert und um Texte des belarussischen Autors Viktor Martinowitsch sowie seiner ukrainischen Kollegin Maryna Smilianets und von Arna Aley aus Litauen ergänzt. Der Krieg, der sich im Buch drohend auftürmt, ist bei den aktuellen Arbeiten Realität – alle drei thematisieren Russlands Angriff auf die Ukraine. Obwohl keine dieser Erwiderungen explizit Material für die Bühne ist, bekommt der Abend durch diese Unterbrechungen eine enorme Dringlichkeit.
Reduziert haben Arnold und Mey nicht nur das Figurenpersonal, sondern auch das großstädtische Flirren, das den Roman zum soghaften Zeitdokument des Berlins in den letzten Zuckungen der Weimarer Republik macht. Viktor Reim hat ein Stahlgerüst auf die Drehbühne gebaut, das in etwa so instabil ist wie die gesellschaftlichen Zustände. „Wir leben provisorisch“, heißt es an einer Stelle – und das macht diese Konstruktion nachvollziehbar.
Auf den Rundhorizont projiziert Sebastian Pircher Filmschnipsel, die Metropolenhektik suggerieren, immer wieder filmt sich das Ensemble auch selbst. Das gibt mitunter zwar nette optische Überlagerungen und andere Effekte. Doch ist dieser Schnickschnack nicht zwingend für die Inszenierung und lenkt ab von den Schauspielerinnen und Schauspielern. Während sein Freund Labude bei Pascal Fligg zum lässig tänzelnden Salon-Kommunisten wird, der zumindest etwas hat, woran er glauben kann (gleichwohl die Massen nicht wirklich mittun), wartet Fabian selbst lieber ab. Durch die Doppelbesetzung gelingt es Arnold, zwei Wesenszüge herauszuarbeiten: Anton Nürnberg ist der Träumer, Silas Breiding der eher Abgeklärte.
Kästner zieht seiner Figur nach und nach den Boden unter den Füßen weg: Fabian wird arbeitslos, seine große Liebe verlässt ihn für ihre Filmkarriere und einen schmierigen Produzenten, Labude wählt den Suizid als Ausweg. An diesen Momenten, in denen das persönliche Leben aus dem Takt gerät, setzen die neuen Texte ein. Sie werden vom Ensemble an der Rampe erzählt und mit eindringlichen Bildern illustriert. Smilianets erinnert sich in Tagebuchnotaten daran, wie sie kurz vor Russlands Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2022 als Touristin in Berlin unterwegs war – und wenig später als Flüchtling zurückkam. Martinowitsch lässt in „Puppenklinik Berlin“ den Konflikt zwischen ukrainischen und belarussischen Flüchtlingen eskalieren: „Wer hat denen erlaubt zu fliehen?“ Arna Aley schreibt Kästner in einer Art Science-Fiction-Epilog fort, der furios ins Leere läuft.
Das letzte Wort gehört aber der Autorin aus der Ukraine. Bei Kästner schreitet Fabian am Schluss endlich zur Tat – und ertrinkt, weil er einen Buben aus dem Wasser zu retten versucht, aber selbst nicht schwimmen kann. Smilianets lässt Ruth Bohsung und Nina Steils daher ans Publikum appellieren: „Lernt schwimmen. Bitte lernt schwimmen.“ Denn das Kind ertrinkt – und keiner hilft, aus Angst selbst abzusaufen. Heftiger Applaus.
Nächste Vorstellungen
am 29. November sowie am 5., 6., 11. Dezember; Telefon 089/523 46 55.
Kästners Roman ist ergänzt um drei aktuelle Texte
Der Abend endet mit einem Appell ans Publikum