Endstation Venedig

von Redaktion

NEUERSCHEINUNG Daniel Schreibers autobiografisches Buch in „Die Zeit der Verluste“

VON TERESA GRENZMANN

„Seit langem wache ich jeden Morgen immer wieder neu in der Zeit der Verluste auf.“ Was tut der Autor, der dies schmerzlich fühlt? Er greift beherzt zum Werkzeug seines Berufsalltags und schreibt ein Buch darüber. Daniel Schreiber – Jahrgang 1977, Schriftsteller, Übersetzer, Kolumnist – hat diese Form der Verarbeitung persönlicher Krisen und Konflikte durch die halb literarische, halb sachliche Recherche in den vergangenen zehn Jahren zur Perfektion gebracht.

Die breite positive Resonanz auf seine Lang-Essays „Nüchtern“ (über den trügerisch lässigen Umgang mit der Glücksdroge Alkohol), „Zuhause“ (über die Sehnsucht nach einem Ort der Zugehörigkeit) und „Allein“ (über den schmalen Grat zwischen Singledasein und Einsamkeit, brisanter denn je in Zeiten der Isolation durch Covid-19) beweist die Relevanz dieser gesellschaftlichen (Tabu-)Themen und bestätigt die Wahl der sehr authentischen schriftstellerischen Form.

„Die Zeit der Verluste“ spielt an einem Tag in Venedig. Der Tod seines Vaters und das Nicht-Zulassen der Trauer durch die Flucht in berufliche Verausgabung haben Schreiber in einem kurzen Studienaufenthalt ganz bewusst in die vom sicheren Untergang bedrohte Stadt geführt, in der das Bedauern über die Vergänglichkeit allgegenwärtig ist. Im Januarnebel über der Lagune sieht er eine Entsprechung zur dumpfen Taubheit der Verdrängung seines Schmerzes. Auf der Friedhofsinsel San Michele denkt er über den Tod nach, die Bereitschaft des Vaters zu sterben, als die Kraft zur Gestaltung der Gegenwart verloren geht, auch über die soziale Anerkennung von Verlusten und das Verschwinden von Abschiedsritualen.

Schreibers selbstreflektierende Bücher erheben keinen Anspruch auf wissenschaftliche Vollständigkeit. Während die persönlichen Passagen hier ein sanftes Abschiednehmen in Erinnerungen spiegeln, können die zahlreichen assoziativen literarischen Verweise als Anregungen gelesen werden, tiefer in den einen oder anderen Aspekt einzusteigen. Der Autor selbst vermisst etwa seine einstige Zuversicht – und zitiert daraufhin die Philosophin Judith Butler, die gerade in der Akzeptanz der Veränderung den Schlüssel zur heilsamen Trauer sehe. Auch begreift er das titelgebende Schlagwort als Phänomen unserer Gegenwart: Klimawandel, Diktaturen, Homophobie, zunehmender Rechtspopulismus, Finanzkrise, Terroranschläge – all dies konfrontiere uns mit dem kollektiven Verlust von Sicherheit. Ein Leben in Endzeitstimmung also? Auch das wird diskutiert. Es lohnt sich, darüber nachzudenken, was die „Illusion der Beständigkeit“ für dieses Leben bedeutet.

Daniel Schreiber:

„Die Zeit der Verluste“. Hanser Berlin, 144 Seiten; 22 Euro.

Lesung: Daniel Schreiber stellt sein Buch heute, 19 Uhr, im Münchner Literaturhaus vor; Restkarten eventuell an der Abendkasse.

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