Gerade hat man seinem dreijährigen Neffen mal wieder dessen aktuelles Lieblingsbuch vorgelesen – und sich mächtig alt und verstaubt gefühlt. Um irgendeinen Bären ging’s darin, der nur vom Papa betreut wird, weil die Mama fleißig Karriere macht, und zusammen mit ihm ausschließlich auf dem Bio-Bauernhof einkauft und der rund um die Uhr mit Holzspielzeug spielt und noch nie ein Smartphone auch nur aus der Entfernung gesehen hat. Der Neffe liebt das Wort „Bio-Bauernhof“; und überhaupt ist all das wirklich ganz vorbildlich pädagogisch wertvoll. Da wird die Tante schon vom Vorlesen der Gute-Nacht-Geschichte hundemüde. Weil Bücher wie das beschriebene noch etwas anderes sind: langweilig, bemüht und ohne Sinn für die größte Stärke, die wir alle einmal mit auf diese schöne Welt bekommen haben – die Macht der Fantasie.
Notorisch wird das kindliche Vorstellungsvermögen von politisch korrekten Kinderbuch-Fabrikanten unterschätzt. Deshalb macht Tantchen jetzt, wozu Tantchen geschaffen wurden: Sie wirbelt im Bücherregal von Nichte und Neffe mal wieder ordentlich durch. Bitte sehr, es fliegen ein: das kleine Gespenst, der starke Wanja, der Räuber Hotzenplotz, der Engel mit der Pudelmütze, Rübezahl, Krabat und der kleine Wassermann. Mit besten Grüßen von Otfried Preußler.
Wie berichtet, wäre einer der größten deutschsprachigen Autoren heuer 100 Jahre alt geworden. Zum Geburtstag hat der Silberfisch-Verlag einige der schönsten Preußler-Geschichten wieder herausgebracht. Als Lesungen von mitreißenden Sprecherinnen und Sprechern wie Felix von Manteuffel („Die Abenteuer des starken Wanja“), Ulrich Noethen („Der Räuber Hotzenplotz“), Eva Mattes („Der Engel mit der Pudelmütze“) oder als Hörspiele – da erwecken dann bekannte Namen wie Anna Thalbach („Das kleine Gespenst“), Laura Maire („Krabat“) oder Matthias Matschke („Der kleine Wassermann“) die fantastischen Kosmen und Geschichten zum Leben. Mit viel Sinn für die passende musikalische Untermalung, die nie nerviger Klangteppich ist, sondern immer wohl gesetzt Atmosphäre schafft, haben das die jeweiligen Regisseure mit ihren Teams inszeniert.
Kinder ab fünf Jahren werden hier bestens unterhalten. Und den großen Hörern wird einmal mehr bewusst, wie zeitlos dieser Preußler war. Wie er es verstand, die Kinder in ihrem Drang, die Welt zu entdecken, ernst zu nehmen. Sinnbildlich dafür steht eine Szene des kleinen Wassermanns, in der er übermütig in den Strom eines Mühlrads hüpft, um sich vom Strudel mitreißen zu lassen. Der alte Karpfen hatte ihn doch noch gewarnt, dass das gefährlich sei. Doch der muntere Nix? Tut’s trotzdem, hat mächtig Spaß – und entdeckt auf diese Weise, was alles in ihm steckt. Falsches Vorbild? Gedankenlose Anstiftung zu gefährlicher Nachahmung? Nö. Einfach nur fröhliche Unterhaltung und die Ermunterung dazu, pfiffig, neugierig und aufgeweckt zu bleiben. Schadet in keinem Alter.