Die ehemalige Fotoreporterin und Lektorin Michka Seld kann nicht mehr alleine leben. Eine sich intensivierende Aphasie, der Verlust des Sprachvermögens, ist nicht das einzige Gebrechen, das plötzlich auftritt. Aber das gravierendste. Die 84-jährige Dame, immer stolz auf ihre große Selbstständigkeit und ihr Ausdrucksvermögen, wird von Ziehtochter Marie ins Altersheim gebracht. Die Eingewöhnung fällt der aufmerksam sich und alle anderen beobachtenden Michka schwer. Ständig kommt jemand ungefragt ins Zimmer. Wirkliche Intimsphäre gibt es nicht. Doch gleichzeitig berührt einen keiner mehr „Haut an Haut“. Körperkontakt dient nur noch der Reinigung.
Die französische Schriftstellerin Delphine de Vigan hat aus den an sich unspektakulären aber einschneidenden Ereignissen der letzten Lebensphase einen kleinen Roman über große Fragen geformt. Es geht in „Dankbarkeiten“ um Würde und das, was bleibt. Um Liebe, Trostlosigkeit und die Kluft zwischen den Generationen.
Die Münchner Schauspielerin und Theaterleiterin Theresa Hanich hat „Dankbarkeiten“ jetzt in der deutschsprachigen Erstaufführung sehr klug für ihr winziges Zimmertheater „Mathilde Westend“ umgesetzt. Überaus geschickt nutzt sie in ihrer Inszenierung den minimalen Raum, der ihr und den zwei Bühnenpartnern Elisabeth Rass und Florian Hackspiel zur Verfügung steht. Für den Abgang von der Bühne geht’s auch mal auf die Straße hinaus. Ein paar Klemmlampen sorgen für die jeweils stimmige Ausleuchtung. Und die Pralinen einer Bekannten, die sie im Heim besucht hat, kann Michka (Rass) gleich den Zuschauerinnen in der ersten Reihe anbieten.
Ein improvisiertes Bett, ein Tisch, ein Stuhl, ein Hocker und ein winziges Regal. Mehr ist Michka von ihrer früheren Existenz nicht geblieben. Logopäde Jerome (Florian Hackspiel), der Michka zweimal wöchentlich besucht, fühlt sich wohl mit den alten Menschen um sich herum. „Ich empfinde Zärtlichkeit für ihre ungenauen Wörter und ihr Schweigen“. Denn dem Dreißigjährigen ist immer bewusst, dass sie auch einmal jung waren: „Auch sie haben einmal geliebt, gelacht und zwei Stufen auf einmal genommen.“ Doch Michka lässt sich vom unerschütterlichen Optimismus Jeromes und seinen Sprechübungen nicht täuschen. Sie weiß: „Es kommt nicht wieder in Ordnung. Am Ende ist alles weg.“ Delphine de Vigans Text spielt virtuos mit der Sprache und der zunehmenden sprachlichen Beeinträchtigung von Michka. Elisabeth Rass, die der Michka anfangs eine faszinierende Intensität verleiht, macht das Gebrechen ebenso sichtbar wie den ungebrochenen Humor dieser Frau.
Ab einem bestimmten Moment sieht man Michka allerdings nur noch beim Verschwinden zu. Das ist, schon angesichts ihres letzten Wunschs, sehr ergreifend. Theresa Hanich, die auch die Rolle der schwangeren Marie übernahm, hat mit ihrer Crew auf 15 Quadratmeter ein feines, kleines und präzises Kammerspiel gezaubert, dessen Wirkung riesengroß ist und lange nachhallt.
Vorstellungen
bis 8. Februar 2024, Gollierstraße 81, Karten unter mathilde-westend.de.