Starke Stimmen

von Redaktion

„Das gelobte Land“ versammelt deutsch-jüdische Literatur im Volkstheater

VON MICHAEL SCHLEICHER

Schreiben statt schreien – obwohl der Drang zu Letzterem seit dem 7. Oktober so unglaublich mächtig geworden ist. Nach dem Terrorangriff der Hamas auf israelische Zivilisten war gerade in der sonst ach so engagierten, sich empathisch und korrekt gebenden deutschen Kulturszene vor allem eines deutlich zu vernehmen: Grillenzirpen. Zögerlich kamen in der Folge zwar einige leise Stimmen der Anteilnahme, des Entsetzens, der Solidarität. Allzu oft jedoch wurden sie relativiert von „Ja, aber…“-Akrobaten, zerredet mit postkolonialem Blödsinn, pervertiert durch Schuldumkehr. Es war – und ist – oftmals zum Schreien.

Oder man schreibt. Wie die Autorinnen und Autoren, die am Mittwoch auf der Bühne 2 im Münchner Volkstheater auftreten. „Das gelobte Land“ haben Slata Roschal sowie ihr Kollege Alexander Estis, die das Programm kuratiert haben, diese (viel-)stimmige, eindrucksvolle Veranstaltung genannt. Das Kulturreferat der Landeshauptstadt und der Rotary Club haben ihre Solidaritätslesung finanziell möglich gemacht – alle Honorare gehen an die Opferhilfe; auch fürs Publikum gilt: Spende statt Eintritt.

Es bleibt kein Stuhl frei an diesem Abend, der naturgemäß stilistisch eine große Bandbreite abdeckt, eben daraus jedoch seine Lebendigkeit und seinen Kurzweil zieht. Literarische Arbeiten werden ebenso vorgetragen wie journalistische; nicht alle Texte beziehen sich explizit auf die Terrorattacken, alle eint jedoch das Schildern von und das Nachdenken über die Bedrohung jüdischen Lebens. Es sind junge Stimmen der deutsch-jüdischen Literatur, die sich hier Gehör verschaffen. Die Autorinnen und Autoren sind zwischen 1965 und 1992 zur Welt gekommen. Man habe sich bewusst gegen die Lesung von Werken aus den Dreißigerjahren entschieden, erläutert Roschal. Nicht zuletzt, um zu zeigen, „wie selbstverständlich und wichtig in der modernen deutschsprachigen Literatur jüdische Stimmen und Themen sind“. Sie wird später ein wunderbar leicht hingetupftes Gedicht vortragen.

Zum Auftakt reflektiert Alexander Estis in einem Essay über „jüdisches Leben“. Die vordergründige Komik des Artikels, die Lust am Spiel mit Worten gibt erst allmählich den Blick auf Verbitterung und Ratlosigkeit seines Autors frei: „Wie also ist das jüdische Leben? Es ist vor allem dies: unwahrscheinlich.“ Zugleich seziert Estis, der heuer mit dem Kurt-Tucholsky-Preis ausgezeichnet wurde, die „Paradoxie“ im Mit- und Nebeneinander von Juden und Nicht-Juden – „zum Beispiel gibt es in Deutschland sehr viel mehr ,jüdische Freunde‘ als Juden“.

Schauspielerin Leni Karrer liest im Anschluss nicht nur aus „Otto“ vor, dem Roman von Dana von Suffrin, die an diesem Mittwoch verhindert ist. Sie leiht ebenso Lea Streisand und Iryna Fingerova ihre Stimme. Beide Autorinnen demaskieren in klaren Analysen und starken Bildern die Wurstigkeit, das Achselzucken sowie das Relativieren vieler Menschen in Bezug auf das Morden der Hamas.

Es ist Fridolin Schley, der im Volkstheater aus seinem Roman „Die Verteidigung“ liest und auf Roschals Frage nach dem Grund für sein Engagement antwortet: „Weil es unerträglich ist, dass Juden wieder Angst haben müssen.“ Das aber ist die bittere Wahrheit, gegen die es anzugehen gilt. Schreiend, schreibend.

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