Endzeit im Kunstschnee

von Redaktion

PREMIERE Die Tiroler Festspiele zeigen Rimski-Korsakows „Schneeflöckchen“

Eine Liebe zum Dahinschmelzen, das sagt sich so leicht. Vor allem wenn das Tauwetter den sicheren Tod bedeutet – und die Heldin im Licht der aufgehenden Sonne verdampft. Hier liegt sie im schmalen Scheinwerferkegel, leblos, eine Verstoßene. Der Kerl, er war ohnehin nur ihre zweitbeste Wahl, hat sich in den dunklen Hintergrund davongemacht. Ein Märchen? Auch das sagt sich zu leicht dahin, wie man in dieser Premiere bei den Tiroler Winterfestspielen erfährt. Denn „Schneeflöckchen“ von Nikolai Rimski-Korsakow ist vieles mehr: Psychostudie, Hymne an die Natur und die Liebe, Spiegelbild heidnischer Gebräuche sowie Kritik an einer Gesellschaft, die Fremdlinge nur bedingt duldet – oder sie benutzt. Nicht allein um eine tödliche Liebe geht es ja. Schneeflöckchen ist die Tochter von Mutter Frühling und Väterchen Frost, Letzterer sorgt für ein Erkalten der Natur. Dazu gibt es einen Sonnengott, der erst mit dem Tod der Titelheldin besänftigt ist. Die brutale Wahrheit also: Nur (und ausgerechnet) ein weibliches Opfer rettet alle.

Schwer ist das in den Griff zu kriegen. Der Inszenierung von Florentine Klepper sieht man es an. Die Geschichte um Schneeflöckchen (im Original Snegurotschka), das sich nach der Welt der Menschen sehnt und nach Nähe, sich in den Hirten Lel verliebt, von ihm wegen einer anderen verschmäht wird und daher mit dem eitlen Misgir eine fatale Beziehung eingeht, all das wird zum schwarz-grau-weißen Endzeitspiel im Kunstschnee. Über der Szenerie, die Bühnenbildner und Ex-Schauspieler Wolfgang Menardi ersonnen hat, fahren konzentrische Holzlatten-Zylinder auf und nieder, dazu gibt es eine kreisförmige Aussparung, die Figuren nach oben befördert oder magisches Zentrum sein soll.

Schwer symbolistisch ist das alles, surreal, durchaus attraktiv in der Bildwirkung. Doch anstatt die Fliehkräfte des Vierstünders (inklusive zwei Pausen) zu bündeln, sich ihnen wenigstens zu stellen, lässt Florentine Klepper vieles einfach geschehen. Das Ergebnis: Arrangement statt Durchdringung. Manchmal wirken die Figuren wie abgestellt. Offenbar soll ein borniertes, sektenhaftes Kollektiv gezeigt werden. Es gibt Andeutungen, Raunendes, doch erst gegen Ende, wenn es menschlich und sehr traurig wird, verdichtet sich der Abend.

Vielleicht auch, weil man sich nicht satthören und -sehen kann an dieser Besetzung. Bernd Loebe, Intendant der Frankfurter Oper und im Nebenjob Chef in Erl, ist bekannt als Spürhund des Opernmarkts. Hier hat sich der 71-Jährige selbst übertroffen. Wo sonst bei russischen Opern großes, ausuferndes Pathos zu hören ist, gibt es in dieser Premiere anderes: energiereiche, klangsatte, doch immer schlank geführte Stimmen mit juvenilem Appeal. Es ist das beste Erler Ensemble seit Langem, vielleicht eines der besten überhaupt in der 25-jährigen Geschichte des Festivals. Beginnend mit Clara Kim, als Schneeflöckchen die lyrische, zauberhafte Insel des Abends, über Danylo Matviienko als Misgir mit Don-Giovanni-Tönen inklusive hohem Testosteron-Anteil und Aaron Cawley als tenorstechender Zar bis hin zu Iurii Iushkevich als Hirte Lel mit seinem sich unverspannt entfaltenden Countertenor. Dazu staunt man noch über Nombulelo Yende als Schneeflöckchens Rivalin Kupawa mit ihrem satten, raumgreifenden Mezzo und über Victoria Pitts als Mutter Frühling, deren große Szene im letzten Drittel zu einem Höhepunkt des Abends wird. Kein Ausfall, alles absolut typen- und stimmgerecht.

Dirigent Dmitry Liss sind diese Kostbarkeiten bewusst. Vom Tiroler Festspielorchester wird niemand auf der Bühne überfahren. Manches klingt etwas diffus und kleckernd, was zeigt: Auch Rimski-Korsakows Partitur lässt sich nicht leicht knacken. Veredeltes Volkstum steht neben alten Kirchenton-Klängen, Rezitativisches neben Ariosem und großen Duetten. Und doch sind das nie Nummern, die auf Wirkung schielen, sondern das Innere der Figuren nach außen stülpen, dabei Fremdartiges, Avanciertes zulassen. Auch musikalisch driftet „Schneeflöckchen“ also auseinander, in seinem Farbspektrum, in seiner Polystilistik –  und manchmal auch dank seiner überlangen Entwicklungen.

Dmitry Liss stellt sich dem mit klugem Kapellmeisterhandwerk, einem Sensorium für Übergänge und Überlagerungen und für Farbaufträge mal in Aquarell, mal in Neon. Manches im Orchester könnte selbstverständlicher sein, das dürften die Folgeaufführungen klären. Von denen gibt es nur zwei, über ein Weiterwandern an Bernd Loebes Frankfurter Haus ist noch nicht entschieden. Für ihn ist es der letzte Winterdurchgang, bevor nach dem endgültigen Finale im Erler Sommer Jonas Kaufmann das Festival übernimmt. Die Wetten laufen bereits: Startet der Star im nächsten Dezember mit dem Winterstück „La bohème“ oder dem Rom-Kracher „Tosca“?

Weitere Vorstellungen

am 3. und 6. Januar.

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