Ein Verlag, der sich was traut

von Redaktion

Die USA streiten um „Gender Queer“ – nun erscheint das Buch auf Deutsch

VON MICHAEL SCHLEICHER

Vor diesem Buch gruselt sich das konservative Amerika: Maia Kobabe, 1989 geboren, erzählt in der autobiografischen Graphic Novel „Gender Queer“ vom Suchen und Finden der eigenen sexuellen Identität. Schließlich gebe es „so viele verschiedene Menschen auf dieser Welt, die alle eine andere Art von Geschichte brauchen“. Vor fünf Jahren erschien der Comic in den USA – nach Angaben des Schriftstellerverbands PEN America zählt er zu den Titeln, die im Zeitraum 2022/23 am häufigsten aus Schulbibliotheken entfernt wurden. In mittlerweile 15 US-Bundesstaaten, allen voran Texas und Florida, ist das Werk nicht mehr in Schulbüchereien zu finden. Der Grund für die Zensur: Dem Ratgeber für betroffene, aber auch nur interessierte Jugendliche und deren Eltern werden etwa Pornografie und das Bewerben von queeren Lebensformen vorgeworfen.

„Die US-Debatte um ,Gender Queer‘ zeigt, wie Zensur und Buchverbote als Mittel eingesetzt werden, um politisch Druck auszuüben – nicht nur in autokratisch regierten Ländern, sondern sogar in Demokratien wie den Vereinigten Staaten“, sagt Tanja Graf, Leiterin des Münchner Literaturhauses. „Es geht immer darum, als unliebsam erachtete Themen zu diffamieren oder zu unterdrücken, oder Menschen als nicht zugehörig zu markieren. Maia Kobabe benennt in ihrem mutigen Buch, was es heißt, sich anders zu fühlen. In einigen konservativ regierten US-Bundesstaaten wird das als Provokation empfunden.“ Graf und ihre Co-Kuratorin Anna Seethaler haben die Graphic Novel daher auch in ihre spannende, informative und im besten Sinne aufklärerische Ausstellung „Verbotene Bücher“ aufgenommen, die noch bis 4. Februar am Salvatorplatz zu sehen ist (wir berichteten).

Als die Schau Ende Oktober eröffnet wurde, war noch kein Verlag gefunden, der „Gender Queer“ in Deutschland herausbringen wollte. Nun gibt es gute Nachrichten aus Berlin: Der künstlerisch und gesellschaftlich enorm engagierte Reprodukt-Verlag kündigt die deutsche Übersetzung für Mai an. „Für mich sind Zensur und Comics immer schon stark verbunden gewesen, ob in Deutschland oder den USA“, erklärt Verlagssprecher Filip Kolek. „Da greifen dann oft mehrere Vorurteile, auch in Kombination: Comics als reines Kinder- und Jugendmedium, Comics als Massenunterhaltung, Comics als vermeintlich niedere Kunstform und Trash. So sind Comics in aufgeheizten Kulturdebatten ein beliebter Sündenbock und eine gern genutzte Projektionsfläche, weil manche Leute von vorneherein nichts von diesem Medium halten. Und wenn man überzeugt ist, dass Comics nur von Kindern gelesen werden, und dann etwas mit erwachsenen – vielleicht gar erotischen oder gewaltschwangeren – Inhalten in die Hände bekommt, kriegt man leicht die Moralpanik.“ Die Stimmungsmache in den USA gegen Kobabes Buch ist für Kolek „Populismus in seiner hässlichsten Prägung: die Stigmatisierung und Ausgrenzung der marginalisiertesten gesellschaftlichen Gruppen“.

Für Literaturhaus-Chefin Graf ist es „großartig und richtig“, dass sich deutsche Leserinnen und Leser bald einen eigenen Eindruck von der Graphic Novel machen können. Denn: „Wir alle sollten uns dafür stark machen, dass freie Meinungsäußerung, Vielfalt der Lebensweisen und Selbstbestimmtheit eine Selbstverständlichkeit bleiben. Bücher wie ,Gender Queer‘ eignen sich hervorragend, die eigene Haltung zu überprüfen.“ » KOMMENTAR

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