„Es ist immer faszinierend, wie so ein Theatertanker sich auf die Abfahrt vorbereitet… So richtet sich alles auf den magischen Moment aus, wenn das Licht im Zuschauerraum auf die Ansage des Inspizienten hin über dem Publikum verdämmert und das plappernde Geräusch der Zuschauer wie auf ein geheimes Zeichen versiegt: ,Vorhang auf!‘, zischelt der Inspizient…“ Dieser Beginn eines Theaterabends, diese Imagination des verlöschenden Lichts hielt ein Leben lang an. Als der Regisseur und Intendant Jürgen Flimm vor einem Jahr am 4. Februar im Alter von 81 Jahren starb, befand sich in seinem Nachlass das Manuskript seiner Autobiografie. Anlässlich seines ersten Todestages sind nun seine Erinnerungen erschienen.
Darin begegnen wir einem Mann und Künstler, der genauso ist, wie wir ihn uns immer vorgestellt haben: unruhig, rastlos, neugierig, leidenschaftlich, politisch, sozialdemokratisch orientiert, gerissen, voller Witz und Humor, kurz, ein Hansdampf in allen Bühnengassen. So wie er die Gesprächspartner auf Pressekonferenzen und das Publikum in Parkett und Rang bestens unterhalten konnte, so tut er das auch mit seinen Lebenserinnerungen. Eine rheinische Frohnatur?
Nicht ganz. Die dunklen, aufbrausenden Seiten seines Wesens spart er so ziemlich aus, nicht aber die bitteren Schicksalsschläge wie den frühen Tod eines seiner Kinder oder das Zerbrechen seiner ersten Ehe. Aufgewachsen im Kölner Umfeld in dem Arzthaushalt seiner Eltern, kam Flimm früh mit dem Theater in Berührung, als Theaterarzt nahm der Vater seinen Sohn oft mit in die Vorstellungen. In Köln begann Flimm, sich professionell um das Theater zu kümmern. Universitätsstudium, Praktika am Schauspielhaus, Studententheater, aushelfen beim WDR, wo er die Bekanntschaft mit Hans Schweikart, dem Regisseur und Ex-Intendanten der Münchner Kammerspiele machte.
Der empfahl seinem Nachfolger August Everding den ambitionierten jungen Mann. 1968 wurde Jürgen Flimm als Regieassistent an die Kammerspiele engagiert. Von nun an ging’s bergauf. Wenn auch zunächst langsam. In München hielt es ihn nicht lange. Als Regisseur konnte er dort nicht reüssieren: „Alle meine Bemühungen, endlich Regie zu führen, wurden nicht belohnt.“ Ähnlich ging es den selbstbewussten Regiestürmern und -drängern Peter Stein und Claus Peymann, die zur gleichen Zeit wie Flimm an den von Everding geleiteten Kammerspielen vergeblich ihr Glück suchten.
Wie gut, dass es im Land andere Intendanten gab. Boy Gobert vom Thalia Theater lud Flimm nach Hamburg ein. Und mit der Inszenierung von Rainer Werner Fassbinders „Bremer Freiheit“ ging 1971 endlich Flimms Stern am Theaterhimmel auf. Da stellte sich bei ihm auch Kurt Meisel vom Münchner Residenztheater an. 1975 „Ein Fest für Boris“ von Thomas Bernhard mit Lola Müthel, Gertrud Kückelmann und Dieter Kirchlechner. 1976 dann Bernhards „Jagdgesellschaft“. Doch die Proben mussten abgebrochen werden. Die wunderbare, aber psychisch stark gefährdete Gertrud Kückelmann erschien eines Tages nicht mehr im Theater, sie hatte sich ins Krankenhaus begeben, unfähig weiterzuspielen; drei Jahre später nahm sie sich das Leben. Für Flimm also musste ein anderes Stück her.
Man entschied sich für Isaak Babels Drama „Marija“ über die vergebliche Hoffnung der russischen Revolution. Ein großer künstlerischer Erfolg, eine noch viel größere politische und zugleich dumm-lächerliche Peinlichkeit, ausgelöst von der damals dem Residenztheater angehörenden Schauspielerin Cordula Trantow. In einem Brief an die Bayerische Staatsregierung denunzierte sie Stück und Inszenierung als staatsfeindliche kommunistische Propaganda und forderte, natürlich vergeblich, das Verbot der Aufführung.
Ähnlich turbulent war es kurz vorher an den Kammerspielen zugegangen, als Intendant Everding seinen Chefdramaturgen, den Dramatiker Heinar Kipphardt, wegen eines angeblich politisch inkorrekten Programmheftes zum Wolf-Biermann-Stück „Der große DaDra“ opferte. In humorvoll bissiger Art holt Flimm in seiner Autobiografie dies alles noch einmal hoch. In den Erinnerungen an seine Münchner Zeit findet sich auch seine große Verehrung für die tollen Schauspieler, denen er in dieser Stadt begegnet ist. Die Bewunderung hielt sein Leben lang an, etwa für Gustl Bayrhammer, die große, schöne Lola Müthel, den feinen Paul Hoffmann, der dem hochfahrenden Regie-Jungspund bei einer eigens dafür ausgesprochenen Einladung ins Restaurant eine freundliche Lektion erteilte.
Das alles bereitet erhebliches Lesevergnügen. Neben den Berichten über seine Intendanzen (vom Schauspiel Köln, dem Thalia Theater in Hamburg, der Ruhr-Triennale und den Salzburger Festspielen bis zur Berliner Staatsoper Unter den Linden) sind ebenso die charmanten Plaudereien über die Opernbranche, die herrliche Cecilia Bartoli und überhaupt die Stars von der New Yorker Met bis zu den Bayreuther Festspielen, von Nikolaus Harnoncourt bis zu Daniel Barenboim von hohem Unterhaltungswert. Seiner Musikliebe, seiner Verehrung für Bach ist auch der Buchtitel geschuldet: „Mit Herz und Mund und Tat und Leben“ spielt an auf eine Kantate des Thomaskantors.
Dazu gesellte sich Flimms Leidenschaft für den Fußball, die Freundschaft mit Otto Rehhagel und in der Berliner Staatsopernzeit das Umschalten von Hertha auf Union: „Wir hissten auf der Staatsoper dann und wann die Fahne der siegreichen Köpenicker, der Eisernen.“ Das ist das Geheimnis: schwere Kost leicht verpackt, so muss es sein. Das war Jürgen Flimm.
Jürgen Flimm:
„Mit Herz und Mund und Tat und Leben“. Kiepenheuer&Witsch, Köln, 352 Seiten; 26 Euro.
Schwieriger Start an den Münchner Kammerspielen
Charmante Plaudereien über Stars und Fußball