Es sind Brahms-Festspiele, die in diesen Tagen in der Isarphilharmonie stattfinden (siehe unten). Und im Mittelpunkt: Zubin Mehta. Der 87-Jährige ist für ein ungewöhnlich ausgedehntes Projekt zu „seinen“ Münchner Philharmonikern gekommen – obgleich der Ehrendirigent des Ensembles die Sache als gar nicht so kräftezehrend empfindet. Eine Begegnung mit dem gut gelaunten Star am Vormittag nach dem ersten Konzert in seinem Münchner Hotel.
Sie haben ja gestern Ihren Münchner Brahms-Zyklus gestartet…
…mit der dritten Symphonie. Sie ist die schwerste der vier! Weil man alles so besonders kontrollieren muss, diesen komplizierten Sechsvierteltakt zum Beispiel. Auch die gesamte Form ist nicht so einfach. Man muss diese Symphonie aufbauen können. Und es gibt sehr viele Differenzierungen im Detail, zwischen Piano und Pianissimo etwa. Bei Beethoven dreht sich vieles um Forte und Fortissimo, bei Brahms ist das anders. Man muss dieses Stück zum Singen bringen. Aber wenn man zu viel und zu gern singt, wird die Dynamik zu hoch. Nicht so einfach.
Sie dirigieren in München acht Konzerte, dann vier auf der Spanien-Tournee der Philharmoniker, anschließend reisen Sie mit dem Orchester für zwei Abende nach New York. Das klingt nach Stress.
Nach 50 Jahren Erfahrung mit dem Israel Philharmonic Orchestra, wo ich früher Chefdirigent war, ist das jetzt mit den Münchnern für mich nicht zu viel. Gut, ich versuche jetzt, weniger zu dirigieren. Meine Assistentin ist da sehr streng mit mir, auch meine Frau. Schauen Sie: Gerade habe ich in Los Angeles neun Konzerte in zwei Wochen gegeben. Vorher war ich krank. Das war seltsam: Ich habe mich gar nicht krank gefühlt! Da war ein Bakterium in meinem Herzen. Jeden Tag kam im Spital der Arzt zu mir und fragte: „Wie geht es ihnen?“ Und ich jedes Mal: „Sehr gut!“ Ich musste Tag und Nacht eine Maschine tragen, die mir tropfenweise ein Antibiotikum verabreicht hat. Und das, obwohl ich mich gesund gefühlt habe.
Was war eigentlich das erste Brahms-Werk, das Sie dirigiert haben?
Die erste Symphonie mit dem Philadelphia Orchestra während einer Sommersaison.
Schreiben Sie sich immer auf, was Sie wo dirigiert haben?
Anfangs. In meine Partituren. In der mit der dritten Brahms-Symphonie lese ich zum Beispiel, dass ich diese 1961 am Linzer Landestheater dirigiert habe. Ich benutze immer dieselbe Partitur. Die hat mein Vater in Bombay gekauft. (Sucht in seiner Tasche und holt die Partitur heraus.) Ich habe sie neu binden lassen. Schauen Sie, da ist noch ein Stempel mit dem Namen meines Vaters. Während meiner Wiener Studienzeit bei Hans Swarowsky mussten wir alle die vier Brahms-Symphonien intensiv analysieren. Das erste Konzert, das ich in Wien gehört habe, war übrigens die Erste mit Karl Böhm im Musikverein. Für mich war das eine Audio-Revolution.
Warum?
Ich hatte noch nie ein solches Ensemble gehört. Im Orchester von Bombay spielten hauptsächlich Dilettanten. Sie waren sehr engagiert, aber technisch nicht gut. Dort gab es Parsen, also Mitglieder meiner Religion, dazu Christen aus Goa – und die Bläser waren von der Marine-Militärkapelle. Die spielten das Konzert in Uniform. Dann kam ich nach Wien und hörte die Philharmoniker. Ich traute meinen Ohren nicht, dass es einen solchen Klang geben kann. Diesen Klang versuche ich bis heute zu erzeugen. Ob in Los Angeles, Montréal oder in New York. Ich war der erste Dirigent in den USA, der Wiener Trompeten einsetzte. George Szell behauptete immer, er sei es gewesen, aber das stimmt nicht. Ich habe meinen Musikern Platten der Wiener Philharmoniker vorgespielt. Und die waren einverstanden damit, sie wollten dann auch diesen Klang. Mit den Streichern war es vielleicht nicht ganz so leicht.
Und spielen die Münchner Philharmoniker mit diesem Klangideal?
Teilweise schon. Es gibt dort wunderbare Solisten, hören Sie sich nur die Holzbläser an.
Dirigieren Sie heute Brahms anders als früher?
Im Allgemeinen nicht. Das hängt doch immer von den Solisten der Orchester ab. Ich bin sehr flexibel. Zum Beispiel jetzt mit Marie-Luise Modersohn, sie spielt ihre Oboen-Soli im dritten Satz der Dritten – und ich folge ihr. Wenn ich das Werk bei einem anderen Orchester dirigiere, wird das Solo vielleicht anders gespielt. Aber das macht doch nichts.
Eine Sache müssen Sie verraten: Sind Sie daran schuld, das Lahav Shani Chefdirigent bei den Münchner Philharmonikern wird?
Nein. Ich bin schuld daran, dass er Musikdirektor des Israel Philharmonic Orchestra wurde. Er war in meiner dortigen Schule. Und er spielte Kontrabass auf einer Tournee des Orchesters. Da hat er auch Strawinskys „Petruschka“ auf dem Klavier gespielt. Sehr, sehr gut war das. Nächsten Monat dirigiere ich übrigens wieder das Israel Philharmonic. Ich weine jeden Tag, wenn ich an das Land denke. Was für eine Katastrophe. Gerade deshalb brauchen die Leute Musik. Vor zwei Wochen hat das Orchester wieder damit begonnen, unter Lahav Konzerte zu spielen. Und die Säle sind voll.
Einer ihrer Brahms-Abende ist ein Solidaritätskonzert für Münchens Partnerstadt Be’er Sheva. Wie wird sich die Situation Ihrer Meinung nach in Israel entwickeln?
Es ist furchtbar, was dort passiert. Diese vielen wehrlosen zivilen Opfer! Trotzdem muss diese Regierung weg. Die Israelis, die ich kenne, denken genauso. Gleichzeitig ist nicht zu verstehen, warum die Bevölkerung in Gaza die Hamas nicht längst hinausgeworfen hat. Ich werde über diese Thematik sprechen, wenn ich wieder in Israel bin. Ich kann nicht stillhalten. Niemand in Israel außer die extreme religiöse Rechte stützt diese Regierung.
Wie viele Jahre im Voraus planen Sie eigentlich?
Für meinen 90. Geburtstag gibt es schon Pläne. Die werden rechtzeitig veröffentlicht. Die Orchester haben schon sehr früh angefragt.
Wie wichtig ist dieses Datum überhaupt für Sie?
Wenn ich es erreiche, bin ich glücklich. Ich fühle mich gerade sehr wohl. Ich sitze beim Dirigieren, aber das ist wegen der Rückenschmerzen.
Ihr Kollege Christoph Eschenbach wird jetzt Chefdirigent in seiner Geburtsstadt Breslau. Er ist 83 und hat einen Vertrag für fünf Jahre unterschrieben.
Ich wollte nicht mehr Chef sein, deswegen habe ich Israel nach 50 Jahren aufgegeben. Es ist nicht wegen der administrativen Aufgaben. Als Chefdirigent hatte ich immer gute Partner als Intendanten, etwa mit Ernest Fleischmann in Los Angeles oder mit Peter Jonas an der Bayerischen Staatsoper. Kein böses Wort fiel zwischen uns. Jetzt, ohne Chefposten, fühle ich mich freier. Ich kann dirigieren, was ich will.
Gibt es eigentlich eine Situation, in der Sie mal laut werden?
In Israel. Lennie Bernstein sagte einmal, mit dem Israel Philharmonic proben ist wie auf einem orientalischen Markt. Ich kann schon streng sein – wenn es sein muss. Ich bin eben flexibel.
Und gibt es Tage, an denen Sie nicht an Musik denken?
Nein, unmöglich. Ich denke die ganze Zeit daran. Ob ich will oder nicht. Sehr viel auch im Traum. Meistens träume ich vom Israel Philharmonic. Ich habe mehr als 4000 Konzerte mit ihnen gespielt, das geht nicht weg. Auch wegen der Menschen dort.
In welcher Sprache träumen Sie?
In der Sprache meiner Heimat und auf Deutsch. Englisch weniger. Mit meinen Eltern kann ich im Traum ja nur in meiner Sprache reden. Meine Sprache fehlt mir. Kaum jemand benutzt sie noch. Bayerisch übrigens verstehe ich einigermaßen, Wienerisch geht besser. Der dortige Musikverein ist wie mein Wohnzimmer. Ich sage immer: Ich habe dort auf dem Stehplatz angefangen und habe jetzt wieder einen.
Das Gespräch führte Markus Thiel.