Hier sprießt die Kunst

von Redaktion

In der Schau „Vom Wesen der Erde“ im Bergson Pop-up feiern Julie de Kezel und e.lin die Natur

VON KATJA KRAFT

Jetzt mal kurz die Vitrine öffnen und hineinpusten – da werden Wünsche wahr. Nein, machen wir natürlich nicht. Denn die Köpfe der Pusteblumen, die im Bergson Pop-up am Marienplatz unter Glas in einer schnöden Schachtel liegen, sind nicht zum Wegblasen da. Sie sind Kunst, geschaffen von Mutter Natur; zu ihr erhoben von Erwin Wiegerling. Unter diesem Namen kennen ihn Kirchenbesucher, die Bescheid wissen. Der Wiegerling aus Benediktbeuern ist eine Koryphäe eines besonderen Handwerks: Seine Werkstätten Wiegerling restaurieren seit 1972 Kirchen, Klöster und Kapellen, Villen auf dem Land, Stadthäuser, Fassaden. Doch in all den Jahren war Wiegerling nebenher auch immer privat künstlerisch tätig; hat in seinem gigantischen Atelier in Gaißach (Landkreis Bad Tölz-Wolfratshausen) irrsinnige Werke geschaffen. Kunst im ursprünglichen Sinne: Aus einem inneren Drang heraus hat der inzwischen 80-Jährige sie angefertigt, hat in ihnen verarbeitet, was ihn bewegte.

Wie den düsteren Moment vor ein paar Jahren. Ein befreundeter Pater war verstorben; am Morgen nach der Todesnachricht blickt der trauernde Wiegerling aus dem Fenster – und die Welt ist weiß. Über Nacht hatte es mächtig geschneit, das gesamte Murnauer Moos bedeckt vom Winterpuder. Wiegerling stiefelte in sein Atelier und ließ alles in sein nächstes Werk fließen, die Trauer, die Kälte, das Verlorensein zwischen Himmel und Erde. Das Triptychon, das auf diese Weise entstand, hängt nun im Obergeschoss des Bergson Pop-up, und allein beim Anblick fröstelt’s einen. Konservierter Winter hinter beschlagenen Scheiben. Eisblumen, Schneewehen. Aber eben auch: dieser sanfte Lichtstrahl, der wärmend durch die weißen Wolken bricht; das Stückchen blauer Himmel. Zarte Hoffnung an ein Paradies, das den verstorbenen Freund empfängt.

Wiegerling hat seine Kunst nie vermarktet, wollte kein großes Geld damit machen. Erst jetzt, im Alter, stellt er sich unter dem Künstlernamen e.lin der Öffentlichkeit, es ist das zweite Mal, dass er ausstellt. Und das erste Mal im Dialog mit einer anderen Künstlerin. Die Kuratoren Benedikt Müller und Alexander Timtschenko haben in der Doppelausstellung „Vom Wesen der Erde“ eine spannende Verbindung geschaffen. Wer vom Ober- hinunter ins Untergeschoss läuft, entdeckt dort die Arbeiten von Julie de Kezel. Wie e.lin, der mit Naturmaterialien aus seiner oberbayerischen Heimat arbeitet – vornehmlich Streu, Erde, Asche –, widmet sich auch die 1995 geborene Belgierin der Natur, die uns umgibt. So zeigt die Schau, wie eine junge Frau und ein älterer Herr das gleiche Thema mit den Mitteln ihrer Zeit auf unterschiedliche Weise künstlerisch bearbeiten.

De Kezel hat 2022 den Karl & Faber Preis gewonnen (wir berichteten). Schon damals begeisterte sie mit einem Mix aus moderner Technik und ursprünglichen Materialien. Im Bergson zeigt sie märchenhafte Miniaturwelten, in denen sich träumerische Geschöpfe tummeln, irgendwas zwischen Superheldin, Fee, Waldelfe. Und immer: sie selbst. Die Künstlerin hat ihren Körper in unterschiedlichen Posen mit einem Computer gescannt und die digitalen Versionen ihrer selbst per 3-D-Drucker in Miniatur zum Leben erweckt. Die winzigen Landschaften, durch die sie die zarten Kraftwesen fliegen, tänzeln, schwingen lässt, hat de Kezel teils aus echtem Moos, getrockneten Pflanzen, geschnitztem Holz geschaffen, teils aus Kunststoff moduliert. Die Grenzen zwischen Natur und künstlicher Imitation sind fließend. Was ist echt, was Manipulation? Zu hochaktuellen Fragen wie dieser inspiriert de Kezel auf wundersam poetische Weise.

Eine Schau, die Kunstfreunde wunschlos glücklich macht. Auch ohne Pusteblume.

Bis 24. Februar

Bergson Pop-up am Marienplatz, Mo.-Sa. 10-19 Uhr.

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